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Schulzeugnisse Der Preis für den Fleiß

Freitag ist Zeugnistag - dieses Ritual verbindet die heutigen Schulkinder mit Generationen vor ihnen. Ein Blick in historische Notenblätter.

Von Hagen Eichler 23.06.2016, 01:01

Magdeburg l Himmel, was für ein makelloses Zeugnis! Deutsch: sehr gut. Russisch: sehr gut. Englisch: sehr gut. Und so geht es weiter, Fach für Fach. Gibt’s denn hier überhaupt keine kleine Schwäche? Nicht die Spur davon: alles Einsen. „Die Reifeprüfung wurde mit Auszeichnung bestanden.“ Wittenberg, den 14. Juni 1972.

Solche Noten sind der Traum jedes Schülers. Wahrgemacht hat ihn ein langhaariger Rockfan, damals 18 Jahre alt. Das Zeugnis wurde zum Beginn einer Karriere, die ihn in das wichtigste Amt Sachsen-Anhalts bringen sollte. Der Abiturient hieß Reiner Haseloff.

„Mein Lieblingsfach war immer Physik“, erzählt der Ministerpräsident und promovierte Physiker heute. Aber auch in Kunst hatte er Spaß. Zu seinem Lehrer Manfred Wenzel hält er noch immer Kontakt, vor zwei Jahren eröffnete Haseloff mit ihm in Berlin eine Ausstellung.

Das streberhaft gute Zeugnis hat einen ernsten Hintergrund. Als gläubiger Katholik hatte Haseloff das staatlich organisierte Ritual der Jugendweihe verweigert. Um dennoch den erhofften Studienplatz zu ergattern, durfte es bei den Noten keinen Ausrutscher geben.

Zeugnisse entscheiden über Lebenswege. Die äußere Form dieser Papiere ist seit mehr als 100 Jahren unverändert: Name des Schülers, belegte Fächer, Zensuren, Stempel, Unterschrift. In den Details aber spiegelt sich die deutsche Geschichte. Wer darin blättern will, tut das am besten in einer Schule mit langer Tradition.

Zum Beispiel im Francisceum in Zerbst. Dicke Mauern, uralte Holzdielen, Klassenzimmer in einer einstigen Klosterkirche – die 1526 als Lateinschule gegründete Lehranstalt atmet Geschichte. Eine doppelte Ahnengalerie schmückt die Aula: oben die Anhalter Fürsten und Herzöge, unten die Schulleiter. Im Schularchiv haben sich viele alte Zeugnisse erhalten. Eines von 1828 führt noch keine Noten auf. Dafür ist es mit dem dicken roten Siegel des Herzoglich-Anhaltischen Consistoriums geschmückt. Franz Schönjan heißt der Prüfling, dem „zu Michael“ – also am 29. September – „das Zeugniß der Reife ertheilt“ wird.

Mit der Studierfähigkeit gehört Schönjan damals zu einer kleinen Elite. Nur die wenigsten Familien können es sich leisten, ihre Kinder so lange zur Schule zu schicken.

1907 haben sich die Zeugnisse formal den heutigen angeglichen. Auffällig ist allenfalls die Rangfolge der Fächer. Platz 1: Religion. Es folgen vier Sprachen: Deutsch, Latein, Französisch und Englisch. Chemie und Biologie heißen „Naturlehre“ und „Naturbeschreibung“ .

Ein Zeugnis von 1927 macht ganz en passant das Ende der Monarchie anschaulich. Anhalt ist seit der Revolution von 1918 Freistaat. Der Direktor des Francisceums reagiert, indem er das Wort „Herzoglich“ aus dem Namen der Schule streicht, fein säuberlich auf jedem einzelnen Zeugnisblatt. Die alten Vordrucke einfach wegzuwerfen, kommt ihm nicht in den Sinn. Die sind doch noch prima!

Karl Lohse, einer der Abiturienten von 1927, hat mit bescheidenen Noten die Reifeprüfung geschafft. Was er werden will? Offizier natürlich – wie der Vater, ein Major a.D. aus Gommern.

Und wie verlässt Lohse die Schule? „Mit den besten Wünschen für seine Zukunft“, notiert der Direktor – es gibt eine eigene Rubrik dafür. Bemerkenswert ist der hohe Anteil promovierter Lehrer: Von acht Mitgliedern der Prüfungskommission tragen fünf den Doktor-Titel, einer ist gar Professor.

1935 trägt das Francisceum die Noten nicht mehr handschriftlich, sondern mit der Schreibmaschine ein. Und wieder hinkt der Vordruck der Realität hinterher: Hinter dem Namen des Schülers folgt die Rubrik „Sohn des ...“ – dabei lernen seit den 1920er Jahren auch Mädchen in dem einstigen Klostergebäude. Für sie wird das Formular zu „Tochter des ...“ nachgebessert.

Nach dem Krieg beziehen ostpreußische und schlesische Flüchtlingskinder die Schule, die eines Tages plötzlich „Oberschule Albert Kuntz“ heißt und noch später Erweiterte Oberschule. Von den Schülern wird jetzt ein Bekenntnis zum Sozialismus verlangt, mindestens aber das Einfügen in das sogenannte Klassenkollektiv. Wer das allzu lässig nimmt, bekommt Ärger. „Leider zeigte Detlef nicht immer die erforderliche Initiative bei der Gestaltung der FDJ-Arbeit in der Klasse“, rügt ein Lehrer 1974.

Deutlich freundlicher klingt, was Sachsen-Anhalts heutiger Bildungsminister Marco Tullner 1981 nach Hause bringt. Gewürdigt wird ein „fester Standpunkt“. Und Tullner zeigt erstmals politisches Führungstalent: als Gruppenratsvorsitzender. Die Noten? Mehr Zweien als Einsen – und in Sport eine Drei. Dieser Schwachpunkt habe ihn durch die gesamte Schulkarriere begleitet, bekennt Tullner. „Wichtig ist es, gelassen zu bleiben“, rät er Eltern heute.

Die Schlagersängerin Linda Hesse hat für die Volksstimme ein spitzenmäßiges Grundschulzeugnis herausgesucht. Eine Streberin, sagt die Halberstädterin, war sie aber nicht. „Es hat mir einfach Spaß gemacht, in die Schule zu gehen. In meiner Klasse waren nur entspannte Mädels und nebenbei hab ich ständig gesungen.“

Weniger entspannt ist der Zeugnistag, wenn Fünfen oder gar Sechsen drohen. Viele Erziehungswissenschaftler sehen die herkömmlichen Zeugnisse daher äußerst kritisch. „Zensuren bedeuten Stress. Unter Stress lernen Kinder aber nicht gut, das belegen die Neurowissenschaften ganz eindeutig“, sagt etwa die Magdeburger Bildungswissenschaftlerin Renate Girmes. Sie fordert für einen Großteil der Schulzeit Textbeurteilungen. „Schön wäre, wenn es irgendwann mal einen mutigen Kultusminister gäbe, der das einführt.“