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Sket Schicksalsstunden im Nobelhotel

Vor 20 Jahren besiegelt eine Aufsichtsratssitzung das Aus des größten Magdeburger Maschinenbau-Kombinates.

18.10.2016, 23:01

Magdeburg l An einem Abend Mitte Oktober vor 20 Jahren stürmt Claus Matecki wutentbrannt aus dem Sitzungssaal des Sket-Aufsichtsrates im Magdeburger Herrenkrug-Hotel. „Sket geht in die Gesamtvollstreckung“, ruft er den wartenden Journalisten maßlos enttäuscht zu. Der Beschluss im höchsten Gremium des Magdeburger Maschinenbau-Unternehmens ist mit den Stimmen der Kapitaleigner und des Vertreters der leitenden Angestellten gefallen, erklärt Matecki. Danach verlässt er voller Zorn das Tagungslokal.

Zuvor sind in der sechsstündigen Aufsichtsratssitzung Welten aufeinandergeprallt. Peter Breitenstein und Rudolf Bohn, die Vorstände der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) im Aufsichtsrat, wollen den harten Schnitt. Die Belegschaft wird schnellstmöglich bis auf 500 Leute entlassen, der Konzern zerlegt. Der Vorschlag soll den Schlussstrich unter ein unrühmliches Privatisierungs-Kapitel ziehen.

Im „Schwer-Maschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann“ (Sket) sind allein in Magdeburg einst 13 000 Menschen beschäftigt gewesen, jetzt sind es nur noch 1500. Hiobsbotschaften sind die Mitarbeiter längst gewöhnt. Seit Jahren brechen Untergangs-Meldungen regelmäßig über ihr Unternehmen herein – und bisher spendete jedes Mal ein Sanierungskonzept wieder Hoffnung. Nun sind die Umsätze erneut eingebrochen und ein neues Rezept steht zur Debatte. Claus Matecki, seit 1991 Chef der Gewerkschaft IG Metall in Magdeburg, will Sket als schlagkräftigen ostdeutschen Anlagenbau-Konzern erhalten. „Wenn ein Laden Probleme hat, müssen die Probleme beseitigt werden und nicht der Laden“, hat er immer wieder betont. Die Treuhand hatte allerdings schon früh profitable Bestandteile herausgelöst – und so die Basis für einen erfolgreichen Umbau des Unternehmens geschmälert.

Als Matecki gegen 14 Uhr zur Aufsichtsratssitzung in den Herrenkrug aufbricht, rechnet er nicht mit dem Allerschlimmsten. Helmut Kohl (CDU) hatte sich noch am Nachmittag im Magdeburger Maritim-Hotel für Sket als Gesamtkonzern stark gemacht. „Der Laden muss erhalten bleiben“, wurde der Bundeskanzler zitiert. Doch Matecki ist durchaus erstaunt: Denn der Ort der Sitzung ist ungewöhnlich, noch nie traf sich das Gremium am Stadtrand. Vor und im Hotel schirmen Sicherheitskräfte das Treffen ab. Unliebsame Gäste sollen draußen bleiben. Matecki, heute 67 Jahre alt, erinnert sich: „Alles deutete darauf hin, dass die Situation außergewöhnlich war.“

Um 15 Uhr beginnen die Schicksalsstunden im Herrenkrug. Sket-Geschäftsführer Werner Kirchgässer erläutert sein Sanierungskonzept. 1000 Mitarbeiter sollen entlassen, Sket in fünf Bereiche aufgeteilt werden. Aus dem ehemaligen Kombinat wird eine Holding. Für die IG Metall ist das ein heikler Punkt, denn in einer Holding mit kleinen Töchtern gibt es keinen Gesamtbetriebsrat. Claus Matecki und die Arbeitnehmervertreter stimmen gegen das Konzept, unterliegen aber mit sieben zu fünf Stimmen den Arbeitgebern.

Der Eklat beginnt gegen 19.45 Uhr. BvS-Juristen legen den unterlegenen Arbeitgebervertretern ein Papier vor. Matecki und seine Mitstreiter sollen unterschreiben, dass sie dem Fortführungskonzept zustimmen. Matecki weigert sich. Wenig später stürmt er zur Tür hinaus. „Damit war für die Arbeitgeber die Gelegenheit gekommen, die Gesamtvollstreckung mit der Begründung, die Arbeitnehmer hätten sich dem Sanierungskonzept für Sket verweigert, in die Wege zu leiten“, erklärt der Gewerkschafter später.

Heute sagt Matecki: „Ich fühlte mich veralbert. Die Arbeitgeberseite hatte sich mit allen Tricks auf die Gesamtvollstreckung vorbereitet.“

Zeuge der denkwürdigen Sitzung im Herrenkrug-Hotel ist an diesem Abend auch Günther Oelze, seit drei Jahren Betriebsratsvorsitzender des Sket. Heute lebt Oelze, längst Rentner, in einer Plattenbausiedlung im Stadtteil Neustädter Feld. Bilder in seiner Wohnung erinnern an den Magdeburger Schwermaschinenbau. Die Sket-Historie ist auch die Geschichte von Günther Oelze. Als junger Mann beginnt er 1965 eine Ausbildung beim Sket. 1972 fängt er im Betrieb 13 an, dem Verseilmaschinenbau. Oelze lernt seine Frau kennen, wird Vater. Aber auch seine Kollegen im Stadtteil Buckau werden wie eine Familie: In der Betriebsmannschaft spielt er Fußball, die Schicht klingt auch mal in der Kneipe „Schlammpietsche“ gleich um die Ecke aus.

Oelze nimmt kein Blatt vor den Mund, sagt, wenn im Betrieb etwas falsch läuft. Von seiner Abteilung wird er 1985 zur Vertrauensperson bestimmt, nach der Wende zum Betriebsrat gewählt. Ab 1993 ist er sogar oberster Vertreter der Sket-Belegschaft. Doch den Absturz kann er nicht verhindern. Der Großteil der früheren Belegschaft arbeitet nicht mehr bei Sket, als 1996 die Gesamtvollstreckung verkündet wird (siehe Grafik).

Heute ist die ehemalige Arbeitsstätte von Günther Oelze eine Ruine. Betrieb 13 zerfällt, steht aber unter Denkmalschutz. Das Nachbargrundstück nutzt Enercon als Lager. Als Betriebsrat hatte Oelze im Sket-Verwaltungsgebäude ein Büro, in der ersten Etage. Der repräsentative Industriebau ist zu neuem Leben erwacht. Dort, wo früher der Betriebsrat auf seinem Stuhl saß, ist heute der Konferenzraum der Regiocom-Geschäftsführung. Der Telekommunikationsdienstleister hat umfangreich saniert. 1000 Mitarbeiter sind im Bau mit den hellen Fluren und den bunten Wänden beschäftigt. Nur ein Tresor, eine Tür und eine Lampe erinnern an die Sket-Industrievergangenheit.

Im Herzen Magdeburgs klafft noch immer eine Wunde, obwohl Nachfolgebetriebe erfolgreich ihren Geschäften nachgehen (siehe Infokasten). „Wir wollten Sket als großes Unternehmen zusammenhalten. Das hat nicht geklappt und tut weh“, sagt Günther Oelze heute.

Er und Claus Matecki, der 2002 in die Zentrale seiner Gewerkschaft nach Frankfurt wechselte, sprechen ab und zu am Telefon über ihr Ringen um Sket vor 20 Jahren – und über die Schicksalsstunden im Herrenkrug, die das Aus von Sket als Gesamtbetrieb besiegelt hatten.