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Syrer in Magdeburg So schmeckt die Heimat

Eine Stiftung in Magdeburg kocht mit einer Gruppe von Syrern. Der Kurs hilft, über Krieg und Einsamkeit zu sprechen.

Von Alexander Walter 24.06.2017, 01:01

Magdeburg l Abid beugt sich prüfend über die Anrichte in der Küche. Auf dem Tisch vor ihm zwei große Auflauf-Formen aus grauem Blech. Darin liegen fein geschnitten Auberginen, Tomaten und Lammgehacktes. „Mein Lieblingsgericht“, sagt er und nennt den arabischen Namen. „Übersetzt heißt es ‚Fleisch im Herd‘“, erzählt der 19-Jährige mit ruhiger Stimme. Das Gericht erinnert ihn an seine Eltern und Geschwister zu Hause in Aleppo. Mehr als zwei Jahre hat er sie nun schon nicht gesehen. 2015 ist Abdulrahman Hamwi, wie er mit vollem Namen heißt, vor dem syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen.

Abid ist nicht der einzige hier mit einem solchen Schicksal. Wir sind in einem Gartenhaus im Westen von Magdeburg. Fünf junge Syrer sind an diesem Abend gekommen. Eingeladen hat die Diehl-Zesewitz-Stiftung. Seit 2003 verschenken Ehrenamtler der Einrichtung Zeit an ältere Menschen, Familien und an Flüchtlinge. Die Regie in der Küche führt Regina Lorek. Die 48-Jährige ist eine von vielen „Zeitstiftern“ der Organisation.

Seit Februar trifft sie sich alle 14 Tage mit „ihren Jungs“ zum Kochen hier in der „Zeit-Oase“ in der Harsdorfer Straße. Die Idee entstand in einer Flüchtlingsunterkunft in Magdeburg. 2015 bot Regina Lorek dort ehrenamtlich Deutschkurse für Abid und seine Freunde an. „Mir fiel auf, dass viele Jugendliche kaum kochen können“, erzählt Lorek. „Abid etwa hat sich fast nur von Tiefkühlpizza ernährt.“

Das Essen, das es an diesem Abend gibt, ist natürlich viel besser, räumt Abid ein. Noch müssen er und seine Freunde allerdings verzichten. Seit dem Morgen haben sie nicht einmal ein Glas Wasser getrunken. Es ist Ramadan, für gläubige Muslime heißt das: strenges Fasten.

Die jungen Männer um den Küchtentisch nehmen‘s gelassen. In bester Laune belegt Abids Freund Muhamad Jumaa Tomatenhälften mit geriebenem Käse. Muhamad ist der Entertainer der Runde. „Eigentlich müssten wir ja bis zum Einbruch der Dunkelheit mit dem Essen warten“, sagt er. „Hier in Magdeburg aber bekommen wir beim Fasten einen kleinen Rabatt.“

Muhamad spielt auf die langen Sommertage in Deutschland an. Schließlich geht die Sonne an diesem Juniabend erst um dreiviertel zehn unter. Nehmen die Männer den Ramadan also nicht ganz so streng? „Streng“, das Wort würde Muhamad nicht benutzen. Aber das Fasten ist ihm wichtig: „Es macht Körper und Seele rein“, sagt er.

Der 22-Jährige stammt aus der syrischen Hauptstadt Damaskus. Sein Vater war Unternehmer im Baugeschäft mit einem großen Fuhrpark. Dann kam der Krieg. Die Geheimpolizei nahm den Vater fest. Für einen Spottpreis musste die Familie alle Maschinen verkaufen. Muhamad floh mit der Mutter ins Nachbarland Jordanien. Dort arbeitete er in Zwölf-Stunden-Schichten als Radladerfahrer und wurde krank. Im Lager erfuhr er vom Tod seines Vaters im Gefängnis. Der Onkel hatte seine Papiere zufällig in einem Krankenhaus gefunden.

Muhamad entschloss sich zur Flucht nach Deutschland. Mit dem Geld aus dem Maschinenverkauf bezahlte er die Schlepper. Im Schlauchboot setzte er eines Nachts von der türkischen Küste nach Griechenland über.

In einem solchen Boot fand sich etwa zur selben Zeit auch Abdulrahman wieder. Kurz zuvor hatte er noch sein Abitur bestanden und wartete auf die Zusage zum Medizinstudium. „Eines Nachts bin ich von einem Zischen aufgewacht“, erzählt Abid. Kurz darauf ein dumpfer Knall, die Erde begann zu beben. Eine Artilleriegranate hatte das Nachbarhaus getroffen. Die Lage wurde fortan täglich schlimmer. In Aleppo gab es damals kein Wasser mehr, erzählt Abid. „Wir mussten oft zum Brunnen gehen.“ Auf dem Weg dorthin schoss eines Tages ein Scharfschütze in die Menge. Menschen neben Abid fielen tot zu Boden.

Auch Abids Eltern schickten ihren Sohn schließlich ins ferne Deutschland fort. Die Trennung macht dem jungen Mann bis heute sichtlich zu schaffen. Der Zufall wollte, dass Abid und Muhamad in einem Zimmer desselben Flüchtlingsheims in Magdeburg landeten. Der ruhige Abiturient aus Aleppo und der Unternehmerssohn aus Damaskus freundeten sich sofort an. Mit Youtube-Videos und Google-Übersetzer brachten sie sich übers Handy selbst die für sie so fremde Sprache bei.

„Weil das WLAN im Heim nur nachts funktionierte, haben wir bis morgens um drei, um vier gelernt“, sagt Muhamad. Die jungen Männer wurden zu einer eingeschworenen Gemeinschaft und spornten sich gegenseitig an. „Nach einem Monat haben wir uns getraut, ein paar Deutsche anzusprechen“, sagt Abid. Doch die hätten nur mit „Häh?“ geantwortet. Für die beiden Syrer ein frustrierendes Erlebnis.

„Da waren wir schon traurig“, sagt Muhamad heute. Die Wende brachte die Bekanntschaft mit Regina Lorek. Muhamad und Abid belegten einen Integrationskurs und konnten sich bald besser als alle anderen im Flüchtlingsheim verständigen. So wurden sie etwa bei Behördengängen zu gefragten Partnern der Neuankömmlinge. „Am Ende hat es schon ein bisschen genervt“, sagt Muhamad. „Ich habe sie alle zu unserem ‚Arzt‘ Abid geschickt.“ Abid winkt ab und lacht.

Inzwischen ist es halb zehn am Abend. Das „Fleisch im Herd“ steht dampfend auf dem Tisch. Die Syrer dürfen endlich mit dem Fastenbrechen beginnen. Die ersten gehen raus zum Rauchen, denn auch das ist tagsüber verboten. Abid gießt sich genüsslich die erste Cola ein. Von nun an dürfen die jungen Männer bis zum Morgen um 2.40 Uhr „sündigen“. Das verführt natürlich dazu, ziemlich viel auf einmal zu essen, sagt Abid. Das Fastenbrechen am Ende des Ramadan sei auch deshalb jedes Mal ein großes Fest. Der Fastenmonat richtet sich nach dem Mond und verschiebt sich jährlich um gut zehn Tage nach vorn. In diesem Jahr dauert er vom 27. Mai bis 24. Juni.

Bei aller Freude über das späte Essen: Für deutsche Gaumen hat das Lamm im „Fleisch im Herd“ doch ein ungewohnt intensives Aroma. Mancher Gast steigt da doch lieber auf die mildere Erbsensuppe um. Abid versichert: „Zu Hause ist‘s leckerer.“ Das Motto: Bei Mutter schmeckt‘s am besten, es scheint längst nicht nur in Deutschland zu gelten.

Die jungen Leute sind trotzdem dankbar, dass es den Kochkurs gibt. Und das nicht nur wegen der arabischen und deutschen Gerichte, die Regina Lorek alle 14 Tage in die Zeitoase bringt. Sind keine fremden Besucher da, schafft der Kurs einen intimen Rahmen. Die Männer können Dinge ansprechen, die sie allein in ihrer Wohnung kaum loswerden.

„Wenn der Alltagstrubel sich legt, kommen die Erinnerungen hoch“, sagt Regina Lorek. Wie geht es den Familien? Was tun gegen das schlechte Gewissen gegangen zu sein? Was tun gegen die bohrende Einsamkeit? Beim Kochen können Lorek und ihre „Jungs“ über all das sprechen. Nach fünf Monaten sind so kulturübergreifend tiefe Freundschaften entstanden. Auch Regina Lorek hat der Kurs geholfen, anzukommen. „In Magdeburg habe ich mich früher nie wirklich zu Hause gefühlt“, gesteht die gebürtige Erfurterin. So tiefgründige Gespräche wie mit den Syrern führe sie mit Einheimischen selten. „Das hat mich tief berührt“, sagt sie. Wegen der Syrer sei Magdeburg inzwischen auch ihre Heimatstadt.

Muhamad und Abid schmieden derweil Pläne für die Zukunft. Muhamad beginnt im Herbst eine Lehre als Kraftfahrer bei der Handelskette Edeka. Nach einem Praktikum in der Orthopädie des Uniklinikums will Abid im Herbst Medizintechnik studieren.

Den nötigen Sprachabschluss hat er in der Tasche, jetzt wartet er nur noch auf die Zusage. Die beiden wollen auf jeden Fall in Deutschland bleiben. Magdeburg ist dabei die erste Adresse, betont Muhamad. Schließlich hat er hier gelernt, wie er sein deutsches Lieblingsessen Gans kochen kann. Doch es gibt noch einen weiteren Grund: „Ich kann doch Regina nicht allein lassen“, sagt Muhamad.