1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. 26 Nachtwächter treffen sich

Tourismus 26 Nachtwächter treffen sich

Schönebeck wird zum Mekka der „Nachtwächterey“. Die „Gilde deutscher Nachtwächter, Türmer und Figuren“ lockt 26 Wächter in die Stadt.

Von Anne Toss 15.10.2016, 01:01

Schönebeck l Es ist eine regnerische und windige Nacht in Bad Salzelmen, einem Ortsteil von Schönebeck. Das mächtige Gradierwerk im Kurpark ist in der Dunkelheit nur schemenhaft zu sehen, der Kies knirscht bei jedem Schritt unter den Schuhen. Sechs Menschen treffen sich zufällig auf dem Hexenhügel, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Man tauscht ein kurzes „Hallo!“ aus, dann starrt jeder für sich in die Dunkelheit. Blätter wirbeln über den Boden, es knackt im Gehölz. Ist da jemand? Große, runde Lampen tauchen die Parkwege in orangefarbenes Licht, mit zugekniffenen Augen versucht ein jeder, etwas zu erkennen.

Da hinten bewegt sich doch etwas? Das muss er sein. Langsam rückt der Unbekannte ins Sichtfeld, es ist ein Zimmermann in seiner Kluft mit einer Plastiktasche in der Hand. Kein gewandeter Nachtwächter mit seiner Laterne. Das Warten geht weiter. „Die Dunkelheit hat etwas Mystisches, Geheimnisvolles. Man wird gleich viel wachsamer, dreht sich öfter um, fragt sich, ob einem ein Fremder folgt“, mit diesen Sätzen hat Jeff Lammel seine Vorliebe für die Nacht beschrieben. Jetzt wird klar, was er damit gemeint hat.

Nachtwächter Jeff Johannes Heronimus von de Lammel der Erste – kurz einfach Nachtwächter Jeff – taucht pünktlich um 20 Uhr auf dem Hügel auf. Gekleidet in einen schwarzen, bodenlangen Mantel, einen dunklen Filzhut auf dem Kopf, tief ins Gesicht gezogen, um den Hals ein Rufhorn, in der rechten Hand eine Hellebarde, in der linken eine Laterne, übernimmt er die Führung der Gruppe. „Wohlan, liebe Leut’, folgt mir!“

Anfängliches Erstaunen über Nachtwächter Jeffs Auftreten wandelt sich rasch in Neugier: „Wie sind Sie denn dazu gekommen?“, will ein älterer Herr, der zurzeit Gast in der Rehabilitationsklinik ist, wissen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass ein Großteil der Ausflügler Klinikgäste sind. „Ich finde, man muss doch auch etwas von der Stadt sehen, in der man sich etwas länger aufhält“, erklärt eine Frau ihre Entscheidung für den Rundgang.

Für Jeff Lammel ist die überschaubare Gruppengröße an diesem Abend kein Beinbruch: „Ich habe schon alles erlebt. Einmal war es nur ein Teilnehmer, dann wieder 140. Das Wetter spielt natürlich auch eine Rolle.“

Seit zehn Jahren ist der 28-Jährige mittlerweile als Nachtwächter unterwegs, dabei hätte sein erster Kontakt mit den Schönebecker Kollegen auch gleich der letzte sein können. Als sich Jeff Lammel auf deren Website umschaute, kam ihm sofort der Gedanke: „Das ist eine Sekte.“ Während des virtuellen Besuchs habe er die ganze Zeit damit gerechnet, dass sich sein Computer einen Virus einfängt.

Heute lacht der 28-Jährige über seine anfänglichen Bedenken. Dass er der „Nachtwächterey“ so lange treu bleibt, hätte er trotzdem nie gedacht. Als Jugendlicher sei er auf der Suche nach einem Hobby gewesen, das sich mit neun Monaten Zivil- und Schichtdienst im Schönebecker Kreiskrankenhaus vereinbaren lässt. „In der künstlerischen Bahn hatte ich da schon Fuß gefasst, besonders durch den Theaterjugendclub.“ Durch einen Hinweis seiner Mutter wurde er auf die Nachtwächter aufmerksam, war fasziniert und wollte sich das genauer anschauen.

Nach Gesprächen mit ehemaligen Mitstreitern stand für ihn fest: das will ich machen. „Ich habe mir die Stadtgeschichte angeeignet, war viel in der Bibliothek. Ein damaliger Museumsleiter hat mir sogar Material auf Disketten mitgegeben“, berichtet er. Die Disketten habe er heute noch, allerdings hat es das passende Laufwerk nicht in die moderne Zeit geschafft.

Nicht in die moderne Zeit geschafft – dasselbe Schicksal ereilte auch den Beruf des Nachtwächters. Aus den mittelalterlichen Städten war er nicht wegzudenken, sorgte er doch, wenn alle schliefen, für Sicherheit und Ordnung auf den Straßen, sagte die Zeit an und ortete verdächtige Personen oder Feuer. „Wenn nach zehn Uhr noch Licht im Hause war, hämmerte ich solange an die Tür, bis jemand öffnete, um ein Feuer zu verhindern“, berichtet Nachtwächter Jeff aus längst vergangenen Zeiten.

Heute jedoch hat der Beruf an Bedeutung verloren, Polizei und die elektrische Straßenbeleuchtung haben die Aufgaben des Wächters übernommen. Dennoch gibt es weiterhin Personen wie Jeff Lammel, die ehrenamtlich oder nebenberuflich als Stadtführer zu nächtlichen Rundgängen einladen, Tradition und Volksgut auf diese Weise erhalten. In der Region trifft man in Städten wie Magdeburg oder Halle gleich auf mehrere Wächter, unterwegs sind sie unter anderem auch in Storkow und Altlandsberg (beides Brandenburg) sowie in Chemnitz und Schöneck/Vogtland.

In der Gilde deutscher Nachtwächter, Türmer und Figuren haben sich rund 180 von ihnen zusammengeschlossen. Sie kommen aus dem gesamten Bundesgebiet und sogar aus dem Nachbarland Österreich. „Über die Gilde sind wir zum Beispiel auch versichert, was für das Tragen der Hellebarde ganz gut ist“, berichtet Lammel. Einem Kollegen sei es nämlich passiert, dass er beim Vorbeilaufen an einer Gaststätte unbeabsichtigt einen Schirm mit seiner Hellebarde aufgeschlitzt habe – solche Erfahrungen und vieles mehr werden bei den Treffen ausgetauscht.

Ein weiteres Anliegen der Gilde ist es, zum Weltkulturerbe erklärt zu werden. 2014 hatte sie es bereits auf die Vorschlagsliste geschafft, mit der Deutschland die Anerkennung schützenswerter Kulturgüter bei der Unesco angemeldet hat. „Wir haben zwar eine Ablehnung bekommen, aber wir probieren es immer wieder“, sagt Lammel.

Im nächtlichen Schönebeck ist die Gruppe samt Nachtwächter mittlerweile beim Gründerzentrum Inno-Life, einem früheren Kurhaus, angekommen. Ein vorbeikommender Passant hat Gesprächsbedarf: „Haben Sie das gesehen, da sind schon wieder Schmierereien am Hauptbahnhof. Der Bürgermeister sollte sich schämen“, berichtet er aufgebracht dem Nachtwächter. Der hört sich die Sorgen aufmerksam an, verspricht die Beschwerde weiterzutragen. „Ich habe natürlich ein offenes Ohr für die Bürger der Stadt.“

Weder bei diesem Gespräch, noch bei weiteren Zusammentreffen mit Passanten schlüpft Jeff Lammel aus seiner Rolle. Er ist an diesem Abend ausschließlich Nachtwächter – und genau so ist es auch von ihm gewollt. „Ich stelle den Nachtwächter nicht dar, ich lebe ihn in diesem Augenblick. Man muss versuchen, die Leute mitzureißen, in die Geschichte hinein – es ist keine monotone Stadtführung, sondern ein einzigartiges Erlebnis.“

Dem 28-Jährigen hilft dabei sicherlich auch sein in Leipzig abgeschlossenes Schauspielstudium. In letzter Zeit habe er bemerkt, dass sich die Figur mit ihm verändert, älter wird. Zu Beginn sei er zum Beispiel sehr quirlig gewesen, jetzt werde er ruhiger. „So lange die Figur da draußen ist, bleibt sie nicht starr.“

Deshalb ärgern ihn auch die „08/15-Nachtwächter“ am meisten: „Wenn jemand nachts dasselbe erzählt wie tagsüber, im selben Tonfall – das geht gar nicht. Nachtwächter sein, ist mehr, als sich einen Mantel anzuziehen und das Nachtwächter-Lied zu singen.“

Nachtwächter Jeff, der „als Bewahrer der Geschichte im Dienst ist“, weiß allerdings auch um die Strapazen, denen sich seine Gäste an diesem Abend ausgesetzt haben. Regen, Wind, Kälte – bei diesem Wetter würde man keinen Hund vor die Tür jagen. Daher lädt er kurzerhand auf einen Wächtertropfen in den Pfännerturm, ein Überbleibsel der mittelalterlichen Stadtbefestigung, ein. „Einer Gruppe hat es hier so gut gefallen, dass wir von einem einstündigen Rundgang eine Stunde hier im Turm gesessen sind“, berichtet Lammel und lacht.

„Der schlafende Nachtwächter“ von Carl Spitzweg hängt im Turm ebenso an der Wand wie ein altes Rufhorn, das mittlerweile ausgedient hat. „Die Schönebecker haben zu mir gesagt: ‚Wir finden es ja toll, was du hier machst, aber leg dir bitte ein anderes Horn zu‘“, erzählt Lammel. Der Grund: In dem alten steckt eine Tröte, es hört sich also eher nach einer Quietscheente an und nicht unbedingt nach einem Nachtwächter.

Noch ein Abstecher in die St.-Johannis-Kirche, dann folgt die Gruppe Jeff zurück in den Kurpark. Dort blickt er in zufriedene Gesichter. „Einen solch langen Rundgang und so viel Informationen, das habe ich nicht erwartet. Ich bin positiv überrascht“, schwärmt eine Teilnehmerin.

Doch das letzte Wort, das das Ende des nächtlichen Stadtrundgangs beschließt, hat an diesem Abend natürlich der Nachtwächter. Seine Stimme hallt durch die Nacht wie in uralten Zeiten:

„Hört, ihr Leut’, und lasst euch sagen: unsere Glock hat zehn geschlagen! Menschenwachen kann nichts nützen, Gott muss wachen, Gott muss schützen. Herr, durch Deine Güt’ und Macht schenk uns eine gute Nacht!“