1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Rotkäppchen war Sachsen-Anhalterin

Trachtentag Rotkäppchen war Sachsen-Anhalterin

Eine der berühmtesten Trachten Deutschlands kommt aus Sachsen-Anhalt. Am Sonnabend könnte sie prämiert werden.

11.05.2017, 23:01

Magdeburg/Möckern l Dass der böse Wolf im Märchen ein Schurke war, ist bekannt. Dass er auch noch Kulturbanause war eher nicht: Doch hätte der Wolf auch nur einen Funken Heimatliebe besessen, er hätte die Pfoten von Rotkäppchen gelassen. Schließlich trug das Mädchen mit seiner Tracht die überaus teure und traditionelle Festtagskleidung der Landbevölkerung, und zwar nicht irgendeine. Glaubt man den Einwohnern in der Gegend östlich von Magdeburg, handelte es sich um die Tracht des Flämings.

Eva von Holly erzählt die Geschichte der Rotkäppchen-Tracht nur zu gern. Denn die junge Frau aus Möckern im Jerichower Land trägt häufig eine ganz ähnliche Kleidung. Ihrer Heimat, dem Fläming, ist die 28-Jährige eng verbunden. Das Gebiet, das seinen Namen wegen der einst eingewanderten Flamen trägt, ist eines der letzten Gebiete Sachsen-Anhalts, in dem es noch eine lebendige Trachtentradition gibt.

Zur Tracht gekommen ist von Holly schon früh in ihrer Kindheit. „Ich bin mit dem Flämingfrühlingsfest aufgewachsen, da wurden Trachten getragen, das ist für mich Heimat“, sagt die groß gewachsene, blonde Frau. 2014 bewarb sie sich als Flämingkönigin, die die Region in der typischen Tracht bei Festen und Messen vertreten darf. Gleich im ersten Anlauf wurde sie gewählt.

Das Amt bedeutete Stress durch Auftritte vor allem an den Wochenenden, doch das war Eva von Holly egal. Ob Internationale Tourismusbörse in Berlin oder Dorffest in der Mark Brandenburg: „Jedes Mal, wenn ich in die Tracht geschlüpft bin, war da dieses Gefühl: ‚Oh du darfst sie wieder tragen“‘, sagt sie. Die Last des Alltags sei dann stets wie weggeblasen gewesen, erzählt von Holly. Und das, obwohl Ungeübte für das Ankleiden schon mal zwanzig Minuten brauchen können.

In voller Pracht wiegt die Festtagskleidung immerhin vier Kilo. Mit Unterröcken, Hemd, Jacke, Weste und Mieder besteht die Tracht zudem aus einer Vielzahl von Teilen.Die Mühe lohnt sich trotzdem. Denn die Tracht ist ein Türöffner zu den Herzen der Menschen, erzählt von Holly: „Überall, wo wir auftauchen, kommen wir mit den Leuten sofort ins Gespräch.“

Von Holly erinnert sich an einen Frühschoppen in der tiefsten Provinz bei Guben in Brandenburg: „Schon als wir kamen, raunten die Leute: ‚Das ist doch die Flämingkönigin“‘, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Minuten später tanzte die Menge mit der Trachtenträgerin krachend über die Dielen.

Es sind solche Momente der Verbundenheit, für die sich das Trachtentragen lohnt, schwärmt von Holly. Die Tracht ist für die junge Frau ein Lebensgefühl, auf das sie nicht mehr verzichten will. Damit steht sie nicht allein. Seit der Wende gibt es in Sachsen-Anhalt wieder mehr junge Menschen, die sich für die Kleidung der Vorfahren begeistern.

Dabei waren Trachten in Deutschland lange auf dem Rückzug. Einst waren sie die Festtagskleidung des zu Besitz gekommenen Bauernstandes, erzählt Charles Koppehele, Vorsitzender beim Mitteldeutschen Heimat- und Trachtenverband. Von unzähligen im Kaiserreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrumpfte die Zahl bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf wenige zusammen. Vor allem im niederdeutschen Raum, zu dem Sachsen-Anhalt gehört, setzte ein regelrechtes Trachtensterben ein. Grund dafür war neben den Verwerfungen der Weltkriege vor allem die Industrialisierung.

Je näher die Menschen an Städten und Bahnstrecken wohnten, desto eher gelangten sie an Kleidung aus den entstehenden Fabriken. Warum Mädchen, die in die Stadt gingen, ihre Trachten bald gegen neue Mode eintauschten, belegt ein Spruch der Zeit aus Berlin: „Die Schürze länger als der Rock, dit Mädchen kommt aus Jüterbog!“ Wer nicht als Landei gelten wollte, passte sich da ganz schnell an.

Im Umkehrschluss blieben Trachten besonders dort erhalten, wo Gegenden weitab vom Schuss lagen. „Die bis heute lebendige Schwarzwaldtracht ist ein schönes Beispiel“, sagt Antonia Beran, Leiterin im Kreismuseum Genthin. In Bayern hielt sich das Dirndl auch wegen der sonntäglichen Kirchgänge der überwiegend katholischen Bevölkerung. Auf dem Gebiet der DDR dagegen gerieten die Trachten nach einer kurzen Wiederbelebung durch Volkstanzgruppen in den 50er Jahren dagegen bald in Vergessenheit.

Dabei hat gerade Sachsen-Anhalt in Sachen Trachten einiges zu bieten: Eigene Traditionen gab es etwa in Altmark, Börde, Harz, Fläming oder der Elbaue. Heute beleben rund 20 Gruppen im Land die Tradition der Vorfahren wieder. So gibt es in Salzwedel die Tanzgruppe Fitschebeen, die in traditionellen Trachten tanzt. Die Trachtengruppe Burg präsentiert die alte Kleidung bei Festen und Empfängen.

Ein paar Jahre früher als Freundin Eva von Holly ist Silvia Nöbel zur Tracht gekommen. Nöbel war Anfang 40 und arbeitslos, als sie den Auftrag bekam, Geschichten für Kinder zu schreiben. Damals sei sie auf die Tradition der Trachten im Fläming gestoßen, erzählt die Leitzkauerin. Seitdem hat Nöbel die Faszination an der historischen Kleidung ihrer Heimat nicht mehr losgelassen.

Heute geht Nöbel auch zum Einkauf im Supermarkt schon mal in Tracht. „Mein Kleiderschrank ist nicht mehr auf dem neuesten Stand“, erzählt sie und muss dabei lachen. Die Tracht könne man sowohl im Winter als auch im Sommer bei jedem Wetter tragen. Obwohl der Stoff teils schwer und derbe ist, sei er unwahrscheinlich bequem zu tragen.

Als eine der ersten Flämingköniginnen, gewählt im Jahr 2001, weiß Nöbel fast alles über Trachten. „Jede ist wie ein Steckbrief und sagt viel über ihre Trägerin“, erzählt die gelernte Erzieherin. So trügen Frauen über 40, wie sie selbst, einen grünen Rock. Die lila-farbene Schürze Nöbels zeigt dem Kenner zudem, dass sie verheiratet ist und Kinder hat.

Außer dem Anzeigen von Alter und Status dienten Trachten aber vor allem dazu, Zugehörigkeit zu zeigen und sich abzugrenzen, ergänzt Charles Koppehele. Damit nahmen sie die Aufgabe wahr, die heute Adidas, Esprit oder Tommy Hilfiger erledigen. Im Gegensatz zu modernen Textilien seien Trachten aber viel aufwändiger und liebevoller gearbeitet: „Wir haben 120 Jahre alte Trachten, die noch heute nichts von ihrer Farbe eingebüßt haben“, erzählt Koppehele.

Das wissen auch heute noch bundesweit viele Trachten-Anhänger zu schätzen. Mit rund einer Million Mitgliedern ist der Deutsche Trachtenverband nach eigenen Angaben die größte Bürgerbewegung für Heimatpflege und Volkskunde in Deutschland. Ab heute und bis Sonntag treffen sich 100 Delegierte zum Deutschen Trachtentag im brandenburgischen Spreewaldstädtchen Lübben. Höhepunkt der Tagung ist am Sonnabend die Bekanntgabe der „Tracht des Jahres“. Auf der Kandidatenliste wird dabei übrigens auch die Flämingtracht stehen. Bisher hat die Tracht von Rotkäppchen noch keine Prämierung bekommen. Silvia Nöbel findet, es wäre wirklich an der Zeit: „Schließlich ist sie so schön, dass schon Schriftsteller alter Zeiten sie in Bücher gebunden haben“, sagt Nöbel.