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Vergessene Orte Die Magie des Verfalls

Der Fotograf Marc Miel­zarjewicz liebt das Kaputte. Ein neues Buch über "Lost Places" versammelt Bilder aus Sachsen-Anhalt.

Von Massimo Rogacki 30.05.2017, 01:01

Magdeburg l Der Blick durch das Loch im Zaun lohnt sich. Dahinter schlummert eine vergessene Welt. Der Boden im früheren Reichsbahnausbesserungswerk Salbke, im Südosten Magdeburgs, ist aufgerissen und von Trümmern übersät. Durch zerborstene Fenster wachsen Sträucher ins Gebäude. Einst arbeiteten hier hunderte Menschen, vor knapp zwanzig Jahren sind die Maschinen endgültig verstummt.

Viele Menschen sehen im alten RAW heute einen Schandfleck, Fotograf Marc Mielzarjewicz findet den Ort großartig. „Faszinierend ist das – wie sich die Natur ihr Terrain zurückerobert“, sagt der 46-Jährige und stapft voller Enthusiasmus mit der Profi-Kamera in der Hand los. Der Hallenser mit den raspelkurzen Haaren hat eine Leidenschaft für marode Terrains. Einstige Fabrikanlagen, Hotels, Ferienheime oder stillgelegte Freibäder: Tausende von Fotos auf seiner Webseite marodes.de zeugen von seinen Erkundungstouren. Kürzlich ist sein siebenter Fotoband mit Aufnahmen von 49 vergessenen Orten in Sachsen-Anhalt erschienen.

Den Betrachter animieren die Schwarz-Weiß-Fotos, sich mit der Geschichte und den Gründen für den Verfall zu beschäftigen – und vor allem: sie regen die Phantasie an.

So etwa beim Anblick einer staubbedeckten Fensterbank in der ehemaligen Seifen- und Parfümfabrik in Zeitz. Darauf ein Telefon. Zerbrochene Wählscheibe, daneben eine Tasse Kaffee und eine leere Büchse Pulverkaffee. Wer hat zuletzt vor diesem Fenster gesessen und aus der Tasse getrunken? Überlegungen, die auch bei Mielzarjewicz das Kopfkino anwerfen. „Manchmal sieht es aus, als wäre gerade erst der Hammer fallengelassen worden. Das interessiert mich“, sagt der 46-Jährige.

In der Szene werden die Schauplätze„Lost Places“ genannt – was in etwa „verlassene Orte“ bedeutet. Entdeckungshungrige wie Mielzarjewicz werden als „Urban Explorer“ (Kurzform: Urbexer) bezeichnet.

Im wahren Leben ist der Hallenser in einem IT-Unternehmen tätig, seine Begeisterung für Ruinen begann schon vor mehr als 25 Jahren. „Angefangen hat es in der Nachwendezeit“, erinnert er sich. „In der DDR und gerade hier in Sachsen-Anhalt sind viele VEBs abgewickelt worden. Die Orte wurden dann häufig sich selbst überlassen. Das zog mich von Anfang an magisch an.“

Die Magie der alten Industriebrachen ist mitunter allerdings brüchig. Auf dem Gelände des RAW haben in den vergangenen Jahren Sprayer, Paintball-Spieler oder Metalldiebe ihre Spuren hinterlassen. Mit dem verbreiteten Codex – möglichst keine Spuren zu hinterlassen – hätten die meisten sehr wenig am Hut, bedauert der Fotograf. Urban Explorer wie er erkunden einen verlassenen Ort nach dem Vorbild des Tauchers. Lautlos dahingleitend, in der Schönheit der Riffe schwelgend.

In der immer größer werdenden Urbex-Szene sind unterdessen viele dazu übergegangen, Neuentdeckungen zu verheimlichen. Der falsche Ansatz, findet Mielzarjewicz. Denn Urban Exploring habe nichts mit Hoheitswissen zu tun. Der Andrang in den Ruinen wird größer. Zahlreiche Blogs und Webseiten belegen die Anziehungkraft der vergessenen Orte. Auf Facebook und Instagram kursieren Bilder, die Community tauscht Tipps aus. Was die Szene eint, sei auch der Nervenkitzel, meint Mielzarjewicz. Der Reiz des Verbotenen. Denn wer ein abgesperrtes Gelände betritt, begeht selbstverständlich Hausfriedensbruch. Kameras oder Sicherheitsdienste sind indes selten.

Marc Mielzarjewicz erkundet ohne Genehmigung grundsätzlich kein Gelände. „Es ist trotzdem noch spannend genug“, sagt er und lächelt. Neben der drohenden Anzeige kann so ein ungesichertes Areal gefährlich für Leib und Leben sein.

Vor vier Jahren ist im Magdeburger RAW ein 24-jähriger Geocacher von einem Schornstein aus 20 Metern Höhe gestürzt und hat sich lebensgefährliche Verletzungen zugezogen. Verständlich, dass Bauordnungsämter nicht gut auf das Ruinen-Kraxeln zu sprechen sind. Auf Anfrage etwa bei der Stadt Magdeburg, warnt Sprecherin Kerstin Kinszorra vor den gefährlichen Touren. Sie seien „fahrlässig“ und könnten „lebensgefährlich“ enden. Das Problem: Bei der „Verkehrssicherungspflicht“ nähmen es viele Eigentümer nicht so genau.

Marc Mielzarjewicz sagt, er durchstreife die Lost Places mit offenen Augen. Das Risiko, sich zu verletzen, lasse sich minimieren. Passiert ist dem 46-Jährigen noch nie etwas, auch weil er niemals ein einsturzgefährdetes Gebäude betreten würde. Dass sich seine Lebenspartnerin während seiner Touren ängstigt, muss er nicht befürchten. Sie teilt das ungewöhnliche Hobby. Nicht selten ist das Pärchen deshalb gemeinsam auf der Suche nach Fotomotiven und nach der ganz besonderen Aura, die die Orte umhüllt.

Beim Fotografieren der Orte benutzt der Hallenser im Übrigen seine ganz eigene Technik. Während ein Großteil der Urbex-Szene auf Farbe setzt und mehr oder minder stark nachbearbeite, schwört der Hallenser auf Schwarz-Weiß – mit nur dezenter Retusche. Die Lost Places inszeniert er als eine Mischung aus Totalen und Detailaufnahmen. Das Spiel mit Licht und Schatten verleiht den Aufnahmen eine Sogwirkung. Zeitgeschichtliches Dokument und bizarre Märchenlandschaft in einem.

Mitunter rettet er mit seinen Fotos die Lost Places vor dem Vergessen. Ein Beispiel: das Gummiwerk in Schönebeck. 2011 war der Fotograf dort, die Produktion stand seit bald 20 Jahren still.

Mielzarjewicz hat besondere Erinnerungen an diesen Ort. „In einem Frühstücksraum hingen noch die Jacken am Haken. Die Stühle waren ordentlich an den Tisch gelehnt. Es sah aus, als seien die Arbeiter nur mal eine rauchen gegangen.“ Wenige Wochen nach seinem Besuch wird die Fabrik abgerissen. Wo einst Hunderte Gummiwerker ihren Dienst versahen, befindet sich heute ein Supermarkt.

Das Buch "Urban Explorer – Lost Places in Sachsen-Anhalt" von Marc Mielzarjewicz mit Texten von Sabine Ulrich und Erik Neumann ist im Mitteldeutscher Verlag erschienen. Der Preis: 19,95 Euro.