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Violinist Schönebecker führt Londoner Orchester an

Für Zsolt-Tihamér Visontay ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Der Schönebecker führt das Philharmonia Orchestra in London an.

Von Emily Engels 23.05.2017, 04:27

Schönebeck/London l Wie gebannt sind die Augen der Zuschauer im Schönebecker Dr.-Tolberg-Saal auf Zsolt-Tihamér Visontay gerichtet. In seiner linken Hand hält er seine italienische Guarneri-Geige aus dem Jahr 1730. Er setzt die Violine an sein Kinn und es folgt eine virtuose Darbietung von Pablo de Sarasates „Navarra“, dem Publikum stockt vor Bewunderung der Atem, in den Pausen seines Spiels könnte man eine Stecknadel fallen hören.

Es ist ein Anlass, zu dem viele ehemalige Schüler und Bewohner der Stadt zurück in die Heimat gekehrt sind: die Schönebecker Musikschule feiert mit einem Festkonzert ihr 40-jähriges Jubiläum. Zsolt-Tihamér Visontay sticht besonders heraus. Denn der gebürtige Schönebecker ist der 1. Geiger des Londoner Philharmonia-Orchesters (original: Philharmonia Orchestra).

In London gibt es sechs große Orchestren, das Philharmonia gehört unmittelbar nach dem London Symphony Orchestra zu den bekanntesten der Stadt. Wer als Solist in der Klassik-Szene einen Namen hat, ist bereits mit dem Orchester aufgetreten. Das Philharmonia hat nicht nur mit der Royal Festival Hall ihre „eigene“ Konzerthalle, mit mehr als 1000 CD-Einspielungen zählt es auch zu den am häufigsten aufgenommenen Klangkörpern der Welt.

Für Zsolt-Tihamér Visontay sind Konzerte Routine – er spielt etwa 160 im Jahr – wenn nicht in London, dann irgendwo anders auf der Welt. Als Konzertmeister führt er das Philharmonia an, ist dafür verantwortlich, dass jeder Einsatz gelingt, dass die knapp 80 Orchestermusiker als Einheit zusammenspielen.

Doch bis Zsolt-Tihamér Visontay diesen begehrten Platz am Pult der ersten Geige in London bekommt, liegt ein langer Weg vor ihm. Und der beginnt in Magdeburg – im ehemaligen Musikschulgebäude in der Hegelstraße.

Jedes Mal, wenn Zsolt-Tihamér Visontay durch die Magdeburger Hegelstraße fährt, wandert auch heute noch sein Blick auf Höhe der Hausnummer 2 auf eine alte Holztür. Diese schwere Tür hat er als Kind mindestens einmal in der Woche aufgestemmt und ist die Treppen hinaufgestiefelt. Sein Ziel: Ein Zimmer, irgendwo im dritten Stockwerk.

Hier bekommt der gebürtige Schönebecker von seinem fünften Lebensjahr an Geigenunterricht bei Hannelore Gericke. „Ihr habe ich meine Technik zu verdanken“, sagt Zsolt-Tihamér Visontay heute. Denn mit ihr habe er damals jedes Musikstück Takt für Takt und Note für Note „durchgeackert“.

„Mir war bereits nach einem Jahr klar, dass Zsolt ein außergewöhnliches Talent besitzt“, sagt Hannelore Gericke. Natürlich habe sie die Maßstäbe bei ihm hoch gesetzt. „Bei einem solchen Talent will man schließlich alles richtig machen“, sagt die pensionierte Geigenlehrerin aus Magdeburg.

Wie jede gute Lehrerin, merkt auch Hannelore Gericke – bei Zsolt-Tihamér Visontay ist es nach neun Jahren – dass es für ihn an der Zeit ist, besonders gefördert zu werden. Für den 14-Jährigen geht es nach Weimar – auf das Musikgymnasium Schloss Belvedere. Das Internat gilt in Deutschland als eine der Elite-Schmieden für Nachwuchsmusiker.

Auf dem Musikinternat in Weimar hat Zsolt-Tihamér Visontay nicht nur mehrmals wöchentlich Geigenunterricht, um sich auf das Musikstudium vorzubereiten, sondern absolviert gleichzeitig sein Abitur.

„Richtig intensiv angefangen zu üben, also mehrere Stunden täglich, habe ich erst mit 17 oder 18 Jahren“, sagt Zsolt-Tihamér Visontay – was für sein Talent spricht. Und das wurde ihm wortwörtlich in die Wiege gelegt. Seine Mutter ist Konzertgeigerin bei der Mitteldeutschen Kammerphilharmonie und Dirigentin des Musikschulorchesters in Schönebeck, sein Vater – ein gebürtiger Ungar – ist Pianist und Dirigent.

Es sind die Fußball-Weltmeisterschaften 2006, Deutschland spielt gegen Italien, Zsolt-Tihamér Visontay spielt zur exakt selben Zeit sein Abschlussexamen auf der Geige, das in Form eines Konzertes abends stattfindet. Den Kommentar eines der Juroren hat er bis heute nicht vergessen. Denn als der Violinist fertig ist und erwartungsvoll in die Gesichter der vierköpfigen Jury blickt, sagte der Professor die erleichternden Worte: „Das war noch besser als Fußball.“

Die Liebe zum Orchesterspiel entdeckt der junge Geiger während seines Studiums – beziehungsweise in den Semesterferien. Denn da ist er mit Jugendorchester der Europäischen Union auf Tour. Das Auswahlverfahren ist streng. Doch wie so oft in seinem jungen Leben spielt Zsolt-Tihamér Visontay vor, überzeugt und wird aufgenommen. Unter der Leitung des Star-Dirigenten Vladimir Ashkenazy lernt er dort nicht nur das Zusammenspiel mit Gleichgesinnten, sondern auch die Konzertsäle Europas kennen. „Das Reisen und die Gemeinschaft war für mich unbeschreiblich toll“, erinnert er sich.

Und eigentlich hat er dem Jugendorchester noch viel mehr zu verdanken. Denn mithilfe des Dirigenten ist Zsolt Visontay an seine jetzige Stelle in London gekommen. „Ashkenazy hat damals ein gutes Wort für mich eingelegt“, sagt der Geiger – und klingt dabei bescheiden. Denn um den begehrtesten Platz in einem Orchester, den es für einen Geiger gibt, und dann noch im Mekka der klassischen Musik, in London, zu bekommen, reicht nicht nur ein „gutes Wort“. Auch Hannelore Gericke bestätigt: „Mit 24 Jahren eine solche Stelle in einem Orchester wie dem Philharmonia in London zu bekommen, das ist wirklich ganz außergewöhnlich.“

Doch zunächst – 23 Jahre jung – ist Zsolt-Tihamér Visontay Konzertmeister im Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera. Wenn sein Spielplan es erlaubt, setzt er sich in den Flieger nach London und spielt als Aushilfe beim Philharmonia-Orchester mit.

Im Orchester in Gera fühlte Zsolt-Tihamér Visontay sich zwar wohl, aber beim Philharmonia fühlt er sich „wie ein Fisch im Wasser“. An seine erste Probe dort erinnert er sich noch genau. Er erzählt: „Ich hatte nur den einen Gedanken: Das klingt hier perfekt – wie auf einer CD.“

Doch trotz seiner gelegentlichen „Ausflüge“ nach London und dem atemberaubenden Gefühl, beim Philharmonia-Orchester aushelfen zu dürfen, genießt er sein beschauliches Leben in Weimar und die Arbeit in Gera. Dort fühlt er sich, als sei er angekommen, mag seine Kollegen und seine tolle Wohnung im Herzen von Weimar. „Ich habe gedacht, dass ich jetzt ein Haus bauen, heiraten und eine Familie gründen könnte“, beschreibt er.

Eines Abends steigt er auf seine Dachterrasse hinauf. Bei einem Glas Rotwein betrachtet er die Lichter der Stadt – ein Moment, den er als fast vollkommen beschreibt. Fast. Wenn da nicht dieser Anruf aus London wäre, der alles verändern wird.

„Ich habe gerade Geige geübt, als mein Telefon klingelte“, erzählt Zsolt-Tihamér Visontay. Er verpasst den Anruf, aber sieht auf dem Display: Es hat eine Nummer aus London angerufen. Als hätte er eine Vorahnung, macht sein Herz einen kurzen Hüpfer. Aufgeregt hört er die Mailbox ab und da fragt jemand auf Englisch, ob er Interesse hätte, beim Philharmonia Konzertmeister zu werden. Und ob er das hat. Trotzdem ist die Vorstellung, sein beschauliches Leben in Weimar und seine schöne Wohnung im Herzen der Stadt verlassen zu müssen und in eine Millionenmetropole zu ziehen, die für ihr rastloses Leben und die horrenden Mietpreise bekannt ist, für den 24-Jährigen Geiger nicht einfach. Gleichzeitig weiß der Künstler in ihm, dass er dieses Angebot nicht abschlagen kann. Er ist mutig und nimmt die Stelle an.

Heute, zehn Jahre später, bereut Zsolt-Tihamér Visontay seine Entscheidung nicht. Seinen Wunsch von Haus und Familie musste er zwar – zumindest vorübergehend – auf Eis legen, das schnelle Tempo Londons gibt ihm dafür einen Kick, seine Arbeit als Konzertmeister liebt er, nebenbei ist er als Solist auf der ganzen Welt unterwegs – übrigens auch in Schönebeck. Denn zu seinem Charakter passen keine Star-Allüren.

Denn während er von seinem Jetsetter-Leben spricht, von den verschiedenen Ländern, die er für Konzerte bereist, könnte er gleichzeitig, mit Jeans und Pullover statt im Frack bekleidet, nicht bodenständiger wirken. Wenn er von seiner Heimat spricht, wird dieses Gefühl bestätigt „Ich spiele zwar in verschiedenen Ländern der Welt – meistens natürlich in London“, sagt er, „trotzdem werde ich meine Wurzeln niemals vergessen.“

Deshalb kommt es auch nicht selten vor, dass Zsolt-Tihamér Visontay in Schönebeck auf der Bühne steht – wie auch zum Jubiläumskonzert der Musikschule. Denn auf die Größe der Veranstaltung kommt es ihm nicht an. „Musik ist für mich eine universelle Sprache, wo ich sie spreche, macht für mich keinen Unterschied“, sagt er.

Neben seiner Mutter, die er regelmäßig besucht, hatte Zsolt-Tihamér Visontay zu seiner Schönebecker Großmutter ein besonderes Verhältnis. „Als sie noch lebte, war ich oft bei ihr zu Besuch“, erzählt er.

Seine Schönebecker Wurzeln wird Zsolt-Tihamér Visontay genauso wenig vergessen wie das Gefühl, als kleiner Junge jede Woche durch die große Holztür in der Hegelstraße 2 gegangen zu sein. Denn diese Tür führte für ihn zu viel mehr, als zu einem Zimmer irgendwo im dritten Stock. Sie führte ihn zu dem, was ihm neben seiner Familie am wichtigsten im Leben ist: der Musik.