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Vor 100 Jahren Die ungeliebten Sommerfrischler

Seit Sommer 1914 tobte Krieg in Europa. Kinder im Herzogtum Anhalt und preußischen Sachsen mussten aushelfen, Lebensmittel waren knapp.

Von Manfred Zander 16.07.2017, 01:01

Magdeburg l Der Juli war auch vor hundert Jahren der Ferienmonat schlechthin. Die von allerlei Sorgen geplagten Magdeburger Stadtverordneten gingen voran und erklärten am 1. Juli die Sommerpause für eröffnet. Ein wenig geduldiger musste die Schuljugend sein. Für sie begannen die Sommerferien erst am 14. Leider versprachen sie auch vielen Schülerinnen und Schülern nur eine trügerische Ruhe.

„Die Landwirtschaft“, blickte die Volksstimme am letzten Schultag voraus, „hat in der Kriegszeit einen bedeutenden Umfang angenommen. Da aber jetzt so viele große Hände fehlen, müssen die kleinen zur Arbeit heran.“

So blieben die von Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen gestalteten Ferienspiele und Ferienwanderungen vor allem den Kleineren vorbehalten, da ihre Kräfte für Erntearbeit noch nicht reichten. Aber auch sie würden nicht ganz unbelastet herumtoben können, vermutete die Volksstimme und sah mögliche mütterliche Ratschläge voraus: „Schont die Schuhe; am besten wäre es, wenn ihr barfuß laufen würdet; ... Zerreißt kein Kleid, keine Schürze. Es kostet jetzt alles sündhaft viel Geld und ist auch kaum zu haben.“ Und: „Rennt nicht zu viel umher, ihr bekommt zu viel Appetit.“ Was wohl eine Mutter empfunden haben mag, die ihrem Kind dies mit auf den Weg geben musste?

Anfang Juli hatte die Gesundheitsbehörde in Klötze Alarm geschlagen. Bei einer Impfaktion waren von den einjährigen Kindern nur wenige impffähig. Bei den meisten Kindern sei die Impfung zurückgestellt worden, „weil sie nach Feststellung des Arztes zu schwach waren“. Auch unter den Zweijährigen habe sich eine Anzahl befunden, „deren körperliche Beschaffenheit zu wünschen übrig ließ“. Das Amt sah dies als Beleg dafür, dass die Behauptung unrichtig sei, nach der „die Ernährungsschwierigkeiten keinen Einfluß auf die Entwicklung der Kinder haben und ihr Gesundheitszustand befriedigend sei“.

Auch der Ernteeinsatz von Kindern und Jugendlichen war nicht unumstritten. Die Oschersleber Bode-Zeitung berichtete von heftiger Kritik einiger Stadtverordneter an den vereinzelt zu langen Arbeitszeiten und der zu geringen Bezahlung.

Das Kriegswirtschaftsamt der Provinz griff in die Auseinandersetzung ein und untersuchte die Bedingungen auf dem Gut des Amtsrats Heine in Klein-Hadmersleben: „Für die Beschäftigung in Alickendorf wurden die Schüler zwischen 6 und 7 Uhr morgens auf Wagen in Oschersleben abgeholt und bis zur Arbeitsstelle gefahren. In derselben Weise wurden sie abends zwischen 6 und 7 Uhr zurücktransportiert. Sie hatten neben der üblichen Frühstücks- und Vesperpause eine Stunde Mittagspause und erhielten außer freiem Mittagessen täglich 1,50 Mark Lohn.“ Beim Erbsenpflücken im Akkordlohn habe es sogar 2 Mark pro Zentner geerntete Erbsen gegeben. Das sei eine verhältnismäßig leichte Arbeit, „so dass grundsätzlich wohl kaum etwas dagegen eingewandt werden dürfte, wenn Schüler so beschäftigt werden“.

Viel zu wenig von dem, was geerntet wurde, kam tatsächlich in die Haushalte. Mit teilweise harten Maßnahmen versuchte die Provinzregierung Abhilfe zu schaffen.

Weil der Stadt Halle noch mindestens 12.000 Zentner alte Kartoffeln fehlten, schickte Oberpräsident Wilhelm von Hegel im Juli sogar Militär in den Kreis Osterburg. Es sollte sämtliche Kartoffelbestände noch einmal durchsehen und die „noch abgebbaren Mengen“ feststellen. „Dem Militärkommando sind Räumlichkeiten, in denen die Kartoffeln lagern, zu zeigen“, ordnete der Magdeburger Oberpräsident an.

Auch Freiherr von Lyncker, stellvertretender Kommandierender General des 4. Armeekorps, versuchte, die dunklen Kanäle im Nahrungsgüterhandel trockenzulegen. Am 7. Juli untersagte er die Veröffentlichung von Zeitungsinseraten, „die das Ersuchen um Höchstgebote für die in den Anzeigen angebotenen Waren und dergleichen enthalten“.

Immerhin: Lebensmittelkrawalle, über die in der Volksstimme aus Stettin und Düsseldorf zu lesen war, waren in der Provinz Sachsen bislang ausgeblieben. Doch der Kampf ums tägliche Brot wurde mühseliger. „Die ,Ersteher‘, das sind die Hausfrauen, müssen früh, sehr früh aufstehen, wenn sie für ihre Küche auf dem Wochenmarkt etwas erhalten wollen“, berichtete die Volksstimme am 5. Juli vom Magdeburger Wochenmarkt. Viel begehrt seien grüne Erbsen und Salat gewesen. „Wo sie in die Erscheinung traten, wurden die Stände förmlich belagert ... Sonst gab es an Nahrungsmitteln – Gurken und Zwiebeln ausgenommen – wenig am Platze.“

Auch der Wochenmarkt am Rathaus kam nicht ohne polizeiliche Gewalt aus. „An einigen Stellen wurden sogenannte bestellte und deshalb zurückgestellte Waren mit Hilfe von Beamten sofort an ... die Frau gebracht“, schilderte die Volksstimme das Geschehen.

Nicht immer aber ist Polizei in der Nähe. In Staßfurt griffen Frauen zur Selbsthilfe, als sie sich von einem Gemüsehändler übervorteilt sahen. Weil er von ihnen 1,50 Mark für ein Bund Mohrrüben verlangte, schleppten die Hausfrauen Händler und Verkaufswagen zum Rathaus. Sie bekamen recht und die Mohrrüben nun für einen reellen Preis.

Ein Bild der Not zeigte sich ganz in der Nähe, in einer Kiesgrube. Dort hatte die Firma Bennecke frisch gemähte Gerste entsorgt, weil sie für das Dreschen zu stark mit Disteln verunreinigt war. Nun stürzten sich viele Bewohner auf den Abfall und suchten die Gerstenhalme aus den Disteln heraus.

Auch in Wernigerode gab es Zank um Lebensmittel. Der 1. Bürgermeister hatte bedürftigen Bürgern Ausgabescheine für zusätzliche Lebensmittel zugesprochen. Einige Empfänger schickten gleich mehrere Angehörige zur Ausgabe der Scheine. Das sprach sich herum und rief Neider auf den Plan. Der Zorn traf Bürgermeister Eberhard.

Zu allem Überfluss trat er eine Woche darauf wieder ins Fettnäpfchen. Weil in jüngster Zeit Sommerfrischler in der Wenigeröder Innenstadt mehrfach angepöbelt worden waren, meldete sich Eberhard in einer Wernigeröder Zeitung zu Wort. Er schilderte die Vorzüge des Fremdenverkehrs für das vor zehn Jahren vom Dichter Hermann Löns als Bunte Stadt am Harz geadelte Wernigerode und rügte Abneigung gegenüber den Sommergästen als abträglich.

Leider hatte er wieder ein Stück Wirklichkeit übersehen. Die Volksstimme in Magdeburg erinnerte ihn am 11. Juli daran: „Daß Erzeuger und Händler unter Umgehung der Höchstpreise ihre Waren mit Vorliebe an Sommerfremde oder deren Wirte verkaufen, weil sie jeden dafür geforderten Preis erhalten, dürfte auch dem Bürgermeister bekannt sein. Diese ... Lebens- und Genußmittel gehen der einheimischen Bevölkerung doch zweifellos verloren.“

In der damals braunschweigischen Nachbarstadt Blankenburg verbot das zuständige Landesernährungsamt am 17. Juli den Verkauf von Lebensmitteln an nicht ortsansässige Personen, sofern diese keine ortspolizeiliche Genehmigung dafür haben.

Dann geht der Juli zu Ende und mit ihm das dritte Kriegsjahr.