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Vor 100 Jahren Harter Monat für Stendaler Richter

Was bewegte die Menschen vor 100 Jahren im heutigen Sachsen-Anhalt? Seit Sommer 1914 tobte Krieg in Europa.

Von Frank Zander 01.04.2017, 23:01

Magdeburg l Es war kein Aprilscherz, auch wenn sich das viele Familien gewünscht hätten. Am 1. April kürzte die Reichsregierung die Brotrationen. Ab 16. April erhielt jeder Deutsche nur noch täglich 170 g Brot. „An diesem Tag nimmt uns der Krieg einen Teil unseres Brotes“, schrieb die Volksstimme. Sie zitierte Oberpräsident Wilhelm von Hegel beim Versuch, den verzweifelten Hausfrauen wenigstens eine Erklärung zu geben: „Die Kürzung mußte erfolgen, weil die bei den bisherigen Kopfmengen nötigen Vorräte nicht in vollem Umfang nachweisbar waren.“ Er versprach Nachprüfungen auf dem Lande, denen - vielleicht - eine Besserung folgen könnte.

Von Rationierung und Beschlagnahme waren längst nicht mehr nur Nahrungsgüter, Gummi und Metalle betroffen. Am 3. April erließ die Reichsbekleidungsstelle eine Richtlinie für die Verteilung von Bekleidung. Sie ordnete bis ins Kleinste, wie viel Bekleidung eine Person besitzen durfte. Die Volksstimme blickte in die Bestandsliste: „So genügen für einen Herrn ein Werktags- und ein Sonntagsanzug, ein Überzieher oder Umhang, zwei Arbeitskittel, zwei Westen, zwei Arbeitshosen, zwei Berufsschürzen, ein paar Winterhandschuhe und sechs Taschentücher, drei Ober-, drei Unter- und zwei Nachthemden, drei Unterhosen, vier Paar Strümpfe.

Auch in die Gestaltung von Hose und Kleid wurde eingegriffen: „Um eine Verschwendung von Stoffen zu verhindern, sind Höchstmaße für Stoffe bestimmt worden. Auf diese Weise soll eine möglichst einheitliche und glatte Mode geschaffen werden.“

Sogar noch schwerer erwischte es die Schuhhersteller. Leder war knapp. Und so war der Umfang der Fertigung auf 30 Prozent zu Friedenszeiten geschrumpft worden. Nach dem 20. April durften Fabriken Schuhwaren nicht mehr auf eigene Rechnung an die Bevölkerung liefern.

In Burg gründete sich im April eine Schuhwaren-Herstellungs- und Betriebsgesellschaft. Sie vereinte 26 noch arbeitende und 121 nicht mehr tätige Schuhunternehmen aus Provinz und Anhalt. Die Gesellschaft wollte die Zahl der Beschäftigten in den noch arbeitenden Unternehmen erhalten und zugleich für die Mitarbeiter der geschlossenen Firmen sorgen.

Wenn etwas knapp wird, ist Selbsthilfe gefragt. Die „Größte Berliner Zuschneide-Akademie“, für gewöhnlich nur am Alexanderplatz der Reichshauptstadt tätig, nutzte die Gelegenheit und bot nun in allen größeren Städten vierwöchige Tages- und Abendkurse im „Maßnehmen, Schnittzeichnen und Zuschneiden sowie Anfertigung von Anproben“ an. „Stoffbeschaffung ist nicht Bedingung!“, teilte Direktor Heinrich Maurer den Magdeburgerinnen per Inserat mit.

Nicht nur Schuhhersteller litten. Am 13. April inserierte Carl Lankau, Inhaber des Magdeburger Restaurants „Luisenpark“ in der Volksstimme: „Meinen werten Freunden die ergebene Mitteilung, daß ich durch den hohen Bierpreis, 42 Pfennig pro Liter (früher 15 Pfennig pro Liter), welcher ... von mir jetzt verlangt wird, gezwungen bin, mein Restaurant bis auf weiteres zu schließen.“

Möglicherweise hatte der Wirt auch vom Ostergeschäft mehr erhofft. Doch das Wetter war nicht förderlich. „Sonnig waren sie zwar, die Osterfeiertage des Jahres 1917, aber warm nicht“, blickte die Volksstimme am 10. April zurück. Es herrschte eine kühle Temperatur, „die es sogar in den Mittagsstunden nie über 12 Grad über Null kommen ließ.“ Da es „erklärlicherweise“ in dieser Zeit an Heizmaterial mangelte, hätten die meisten Menschen das Osterfest in winterlicher Kleidung zugebracht.

Das Museum für Natur- und Heimatkunde in Magdeburg warb um Besuch, wies jedoch darauf hin: Beheizt ist nicht.“ Wärmer war es in den Theatern der Provinzhauptstadt. Im Stadttheater gab Lucie Höflich als Gastspiel-Margarete im „Faust“ ihre letzte Vorstellung. Im Wilhelm-Theater lud die Direktion passend zur langsam auslaufenden sechsten Kriegsanleihe zur Kalman-Operette „Gold gab ich für Eisen“. Das Zentraltheater bat an allen Osterfeiertagen zur „Fahrt ins Glück“. In den Lichtspieltheatern flimmerten „Entehrt“, „Das Geheimnis des Kilometersteins Nr. 13“, „Rübezahls Hochzeit“ und „Der bestrafte Don Juan“.

Die Magdeburger Rennbahn am Herrenkrug feierte gemeinsam mit den Bahnen in Karlshorst und Düsseldorf deutsche Galopp-Premiere. Für die sieben Rennen waren knapp 30.000 Mark Preisgelder ausgeschrieben. Zum Hauptereignis, dem Magdeburger Frühjahrs-Ausgleich, wurden 15 Pferde gemeldet. Ein Ergebnis, das den Sportberichterstatter der Volksstimme zur Bemerkung verleitete: „32 Kriegsmonate haben also dem Sport noch nicht viel anhaben können.“

Viele Menschen arbeiteten Ostern. Am 1. April hatte Freiherr Moritz von Lyncker, der stellvertretende Kommandierende General des IV. Armeekorps, dazu aufgerufen, auch am Karfreitag, am Himmelfahrtstag und an den Oster- und Pfingstfeiertagen in den Werkstätten und Betrieben zu arbeiten, um kältebedingte Rückstände aufzuholen. „Der Kampf an der Front ruht an diesen Tagen auch nicht! Unsere Brüder im Schützengraben brauchen die Munition.“

Immer häufiger wurden auch Kriegerfrauen zwangsweise zur Arbeit verpflichtet. Sie waren erpressbar. Der Magistrat im altmärkischen Bismark verfügte am 26. April: „Weigern sich Kriegerfrauen, die nach ihren häuslichen Verhältnissen abkömmlich sind und körperlich zu arbeiten vermögen, vor allem junge ... Kriegerfrauen, zu arbeiten, so wird angenommen werden können, daß sie dazu auch der Familienunterstützung zum Durchkommen nicht benötigen. Sie haben die Einziehung der Familienunterstützung zu gewärtigen, wenn sie trotz ernster Vermahnung ihrer vaterländischen Pflicht nicht eingedenk sind.“

Selbst der kühle Frühling weckte Frühlingsgefühle. Nicht immer ließen sie sich ausleben. Auf dem Bahnhof Neustadt warf sich am 1. April eine Frau vor den um 6.35 Uhr aus Richtung Hauptbahnhof einfahrenden Personenzug.“ Sie war sofort tot. „Wie später festgestellt wurde“, berichtete die Volksstimme, „war es das 22jährige Fräulein Pasenau aus Barleben. ... Es wird versichert, daß die Bedauernswerte den Tod selbst gesucht habe. Der Grund soll Liesbeskummer sein.“

Ein ähnliches Drama ereignete sich im Gerstedter Holz bei Salzwedel. Dort vergiftete sich der 17 Jahre alte Primaner Franz Tiedemann mit dem Inhalt einer halben Flasche Lysol. Grund: Seine Mutter hatte ihm die Liebe zu einem 19-jährigen Dienstmädchen untersagt.

Gleich zwei Mordprozesse sorgten im April für Gesprächsstoff in Stendal. Am 18. April war die polnische Schnitterin Stanislawa Dudka angeklagt. Aus Furcht, nach der Entbindung von einem Sohn den Arbeitsplatz auf einem Wendemarker Gut zu verlieren, hatte sie das Kind nach der Rückkehr aus der Entbindungsanstalt gewürgt und im Wald liegen lassen. Die Geschworenen sprachen sie dennoch nur des Totschlags schuldig. Sie musste für ein Jahr ins Gefängnis.

Zwei Tage später stand Wladislaw Kamecz vor dem Stendaler Schwurgericht. Der Vorwurf: Im Sommer des Vorjahres habe er in Wolfsburg das Dienstmädchen Hedwig Wöhler getötet. In seinem Fall bejahten die Geschworenen die Frage nach der vorsätzliche Tötung. Das Gericht verurteilte den Angeklagten deshalb zum Tode.

Allein an dem Tag zwischen beiden Prozessen dürften an den Fronten einige Tausend Menschen gestorben sein. Dem Krieg, der dafür den Rahmen bot, widmete die Volksstimme am 26. April die Titelzeile: „Tausend Tage.“ Im ersten Satz des Beitrags klärte der Verfasser auf: „Solange dauert jetzt der Weltkrieg.“

Und der hatte gerade einen neuen Helden geboren. Die Volksstimme berichtete am 3. April: „Über Neu-york gibt Reuter ein Telegramm aus Rio de Janeiro wieder, wonach die französische Bark „Cambronne“ mit 200 englischen, französischen und italienischen Matrosen angekommen ist, die zu Besatzungen von Schiffen gehörten, die von einem deutschen Schiffe bei Trinidad versenkt worden sind. Dieses Schiff wird als Segelschiff ... geschildert. ... Das Schiff hatte drei Masten ..., Kommandant war Graf Luckner.“

Nicht ganz drei Jahrzehnte und einen Krieg später wurde Felix Graf Luckner - so die richtige Schreibweise seines Namens – in der früheren Provinz Sachsen zum Helden. Gemeinsam mit anderen Persönlichkeiten soll er 1945 die Zerstörung Halles verhindert haben.