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Wahlfälschung Übergabe am Straßenrand

Im Stendaler Briefwahlskandal um den ehemaligen CDU-Stadtrat Holger Gebhardt sind neue Erkenntnisse ans Licht gekommen.

26.06.2016, 23:01

Stendal l Für Jutta G. war es ungewöhnlich. Die Mitarbeiterin des Stendaler Einwohnermeldeamtes hilft an einem Tag im Mai vor zwei Jahren im Briefwahllokal des Rathauses aus, als 20 Briefwahlvollmachten auf einen Schlag von einer Person vor ihr liegen. Sie fragt bei ihrer Vorgesetzten Maria-Luise K. nach, ob denn da keine Einschränkung gelte. Diese gebe es nicht, sagt ihr die erfahrene Wahlorganisatorin. Doch diese Auskunft ist falsch – und verhängnisvoll.

Im Erdgeschoss des Verwaltungs-gebäudes 1 am Stendaler Marktplatz geht es in den Tagen vor dem Wahltag 24. Mai 2014 wie in einem Taubenschlag zu. Und immer wieder tauchen Familienmitglieder, Bekannte und Parteifreunde von Holger Gebhardt dort auf – mit insgesamt 189 Vollmachten von Wahlberechtigten.

Ein paar hundert Meter weiter in der CDU-Kreisgeschäfts- stelle an der Bismarckstraße haben Vollmachten in zwei oder drei DIN-A-Umschlägen bereit gelegen, erinnert sich Kreisgeschäftsführerin Yvette B. bei ihrer Zeugenbefragung. Ihre Kollegin holt bei zwei Gelegenheiten 25 Briefwahlunterlagen ab.

Beim CDU-Kreisvorsitzenden Wolfgang Kühnel sind es sogar 32. „Guten Morgen Wolfgang, darf ich dir noch ein paar Vollmachten zur Abholung geben? LG“, schreibt ihm Holger Gebhardt am 14. Mai. Kühnel antwortet: „Natürlich, gern!“

Zweifel seien dem CDU-Trio dabei nicht gekommen. Und die Verwaltung lässt diese Masseneinreichungen laufen. Selbst als Yvette B. für eine ihrer zwölf Vollmachten keine Briefwahlunterlagen erhält. Die Mitarbeiterin des Briefwahlbüros verweist die Kreisgeschäftsführerin darauf, dass der betreffende Wahlberechtigte selbst die Briefwahl beantragt habe.

Hier hätte das System auffliegen können.

Dass die Vollmachten auf ihren Namen ausgestellt sind, will Yvette B. übrigens nicht bemerkt haben.

Holger Gebhardt macht immer weiter. Am 19. Mai fragt er seine Parteifreunde in der Geschäftsstelle wieder an: „Ich bekomme heute noch ca. 20 Briefwähler, wer könnte die morgen abholen?“

Wie kommt jemand an so viele Vollmachten? Für die Ermittler ist das Puzzle mit den vielen Teilen inzwischen gelöst. Sie gehen davon aus, dass Gebhardt Daten von Arbeitslosengeld-II-Empfängern aus seiner Tätigkeit beim Jobcenter genutzt und ihre Unterschriften gefälscht hat.

Auf seinem IPhone entdecken sie eine Notiz, auf der einem Teil der Bevollmächtigten jeweils die Zahl 30 zugeordnet ist. Die Polizei vermutet, dass sich dahinter die Zahl der Vollmachten verbirgt, die die Betreffenden erhalten sollten.

Dazu zählen auch das Unternehmer-Paar Wolfgang und Antje M. nebst einer Tochter und einer Angestellten. Antje M. erklärt in ihrer ersten Vernehmung noch, sie habe etwa 20 Wahlunterlagen für Angestellte ihrer Firma, Freunde und Bekannte geholt.

Zwei Tage später korrigiert sie schriftlich, dass sie einen ganzen Umschlag verschlossener Briefumschläge von Holger Gebhardt bekommen und ihm dann die Briefwahlunterlagen überreicht habe.

Ihre Angestellte erinnert sich noch daran, dass sie die Mitarbeiterinnen des Wahlbüros angesichts der vielen Unterlagen sogar beim Zusammenstellen der Wahlunterlagen und beim Zusammenfalten und Eintüten unterstützt hat.

Den Karton voller Briefwahlunterlagen erhält Holger Gebhardt dann am Straßenrand im Stendaler Plattenbauviertel Stadtsee.

Das Duo holt demnach auch Unterlagen ab, für die M.‘s Ehemann und ihre Tochter als Bevollmächtigte eingetragen waren. Solche Fälle hatte Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt (CDU) vor dem Sonderausschuss des Stadtrates im Januar 2015 ausgeschlossen. Auf die Frage „Gab es unterschiedliche Verfahrensweisen bei der Abholung von Briefwahlunterlagen?“ antwortete Kleefeldt: „Anlässlich der Wahl im Mai wurden Briefwahlunterlagen gegen Vorlage der Vollmachten ausgereicht. Ferner musste sich der Vollmachtnehmer ausweisen.“

Im Stendaler Rathaus hatte der Wahlskandal bislang keine personellen Konsequenzen. Kleefeldt hatte nach Bekanntwerden der Panne im Sommer 2014 die „politische Verantwortung“ übernommen, da die Mitarbeiter nicht ausreichend geschult worden waren.

Oberbürgermeister Klaus Schmotz (CDU) lehnte eine Dienstaufsichtsbeschwerde der SPD-Fraktion im Herbst 2014 ab. Er sieht bei Kleefeldt „wenn überhaupt“ eine „leichte Verletzung seiner Leitungspflicht“ und bei der für die Wahl zuständigen Mitarbeiterin „einen Fall der leichten Fahrlässigkeit“.

Die CDU fokussierte sich ausschließlich auf Holger Gebhardt, der sämtliche Funktionen niedergelegt hat und aus der Partei ausgetreten ist. Landesvorsitzender Thomas Webel hatte unter dem Eindruck der Durchsuchung der CDU-Kreisgeschäftsstelle im November 2014 in einer Presseerklärung versichert: „Die CDU wird selbstverständlich in vollem Umfang mit der Staatsanwaltschaft kooperieren.“ CDU-Kreischef Wolfgang Kühnel hat sich indes trotz Vorladung bislang gegenüber der Staatsanwaltschaft noch nicht geäußert.

Die Fälschung von Vollmachten scheint zudem kein Einzelfall zu sein: Bei ihrer Hausdurchsuchung stellten die Beamten bei Holger Gebhardt auch Kopien von 61 Wahlbenachrichtigungskarten sicher, bei denen in 28 Fällen Conny B., in 19 Fällen er selber und in 14 Fällen Wolfgang Kühnel als Bevollmächtigte für die Briefwahlunterlagen eingetragen waren - für die Stadtratswahl 2009. Damals erhielt Holger Gebhardt von 531 Stimmen 300 per Briefwahl.

Fünf Jahre später hatte er sein System offenbar perfektioniert: 689 seiner 837 Stimmen bekam Gebhardt am 24. Mai 2014 über die Briefwahl.