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Wahlumfrage Knapp daneben, voll vorbei

Brexit, Trump, AfD oder SPD: Meinungsforscher liegen in Sachsen-Anhalt nicht selten weit neben der Wirklichkeit. Wie kommt das?

Von Jens Schmidt 15.09.2017, 01:01

Magdeburg l Anfang 2016 sackt Sachsen-Anhalts SPD in den Umfragen auf 15 Prozent. Viele Sozialdemokraten hoffen, dass die Unterkante erreicht ist. Doch sie ist es nicht. Am Abend der Landtagswahl im März stehen 10,6 Prozent am Balken. Damit setzt sich eine Serie fort, die seit fast 20 Jahren anhält: Die SPD wird in Umfragen überschätzt – so stark, wie keine andere Partei im Bundesland. „Schaut man sich Sachsen-Anhalts Landtagswahl-Ergebnisse seit 1998 an, so klaffen zwischen Meinungsforschung und Realität im Mittel vier Punkte“, sagt Roger Stöcker, Politik-Wissenschaftler an der Uni Magdeburg. Der Wert liegt deutlich über der Fehlertoleranz.

Ein ähnliches, wenn auch schwächer ausgeprägtes Bild ergibt sich bei Bundestagswahlen. 2013 taxierten die Meinungsforscher die SPD in Sachsen-Anhalt auf 20 Prozent. Real waren es 18. Auch auf Bundesebene existiert das Phänomen. 2013 pendeln die Umfragen kurz vor der Wahl zwischen 26 und 28 Prozent. Am Wahlabend sind es 25,7. Vier Jahre zuvor war es ähnlich.

Nun liegen zwei Punkte plus oder minus in der Fehlertoleranz. Doch die SPD landet seit Jahren meist am unteren Ende. Und das, obwohl die Partei durchaus eine hohe Anerkennung genießt. „Die Marke SPD ist eine gute Marke“, sagt Hermann Binkert, Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa in Erfurt. Wenn sein Institut fragt, welche Partei denn keinesfalls in den Bundestag gehört, dann wird die SPD am seltensten genannt. Also: Die Partei ist vielen sympathisch, aber man wählt sie dann doch nicht immer.

Politik-Wissenschaftler Stöcker erklärt die Diskrepanz mit dem Alter der Anhänger. In Sachsen-Anhalt wählen fast 30 Prozent der Über-60-Jährigen SPD – das liegt deutlich über dem, was die Partei im Gesamtergebnis erzielt. Womöglich liegen die Potenziale bei den Betagten sogar noch höher. „Doch Ältere sind nicht mehr so mobil“, meint Stöcker.

Die SPD selbst hält das nicht für plausibel, da gerade die älteren Semester als disziplinierte Wähler gelten. Eher verfestigt sich in der Politlandschhaft die Einsicht, dass Umfrage-Ergebnisse wiederum Stimmungen und Wahlergebnisse beeinflussen. Ist die SPD weit abgeschlagen und ein Sieg aussichtslos, bleiben womöglich Anhänger daheim, weil es sich eh nicht mehr lohnt.

Nimmt die SPD die Umfragen noch ernst? Das ist eine zwiespältige Sache. „Mit dem Kopf ist man skeptisch, aber das Bauchgefühl treibt einen dann doch immer wieder um“, bekennt Parteisprecher Martin Krems.

Ganz anders läuft es bei der AfD. Die rechtsnationale Partei übertrifft bei Wahlen die Umfrage-Werte meist deutlich. Als Ende 2015 das Institut Insa für Sachsen-Anhalt erstmals um die 15 Prozent misst, geht ein ungläubiges Raunen durch die Polit-Landschaft. Drei Tage vor der Wahl im März klettern die Zahlen aller Institute auf 17 Prozent. Am Ende sind es 24.

Dass Parteien auf der rechten Seite unterschätzt werden, ist nichts Neues. 1998 kommt hier die radikale DVU in den Umfragen kurz vor der Wahl auf 6 Prozent. Am Wahlabend sind es fast 13.

Gründe?

Meinungsforscher sagen: Am Telefon geben etliche Befragte nicht zu, eine rechte Partei zu wählen. Bei der AfD ist die Scheu zwar nicht mehr so ausgeprägt wie bei NPD und DVU – aber sie ist noch da. Vor allem im Westen. „Die Leute im Osten haben da weniger Hemmungen“, sagt Insa-Chef Binkert.

Zweiter Grund: Nur jeder Fünfte, bei manchen Umfragen sogar nur jeder Zehnte ist bereit, überhaupt mitzumachen. Weil sie „das System“ und damit auch Meinungsforscher ablehnen. Unter ihnen sind vermutlich auch etliche, die rechts wählen. „Der Vorwurf der Lüge trifft nicht nur die Presse, sondern auch uns“, sagt Matthias Jung, Chef der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim.

Ein weiterer Grund für Fehlschüsse dürfte in den Methoden liegen. Viele Institute veröffentlichen nicht die Rohdaten (also das, was wirklich bei der Umfrage herauskam), sondern gewichten diese mit bestimmten Faktoren: Parteibindungen, Parteisympathien, Trends. Die genauen Formeln sind meist Betriebsgeheimnis.

Jung lehnt das ab. Seine Forschungsgruppe veröffentlicht stets beide Werte: die Rohdaten – als Stimmung bezeichnet – sowie eine Projektion, wo Parteibindungen hineinspielen. In die Projektion fließt auch der Umstand, dass Befragte sich nicht trauen, eine Partei wie die AfD anzugeben. Oder es rundweg ablehnen, überhaupt etwas zu sagen. Jung spricht von einer „AfD-Dunkelziffer“, die auf die Rohdaten aufgeschlagen wird.

Als Lehre aus den Landtagswahlen Anfang 2016 wird eine höhere Dunkelziffer unterstellt. Jung meint, das funktioniert. Bei den Wahlen danach - etwa in Mecklenburg-Vorpommern - seien die Umfrageresultate jedenfalls sehr nah am Wahlergebnis gewesen. Und bei der Bundestagswahl? Aktuell misst die Forschungsgruppe eine Stimmung von 7 Prozent für die AfD (Rohdaten). In der Projektion sieht Jungs Institut die Partei bei 9 Prozent.

Andere, wie Insa, sehen die AfD seit August wieder zweistellig. Insa geht auch einen anderen Weg. Die Erfurter nutzen neben dem Telefon auch die Online-Befragung. In der Branche ist das umstritten, doch Insa-Chef Binkert ist davon überzeugt. „Es gibt nicht den Königsweg.“ Bei Umfragen auf Landesebene nutzt sein Institut oft das Telefon, bei Bundesumfragen die Mail. „Online erreichen wir mehr Jüngere. Außerdem haben die Leute weniger Hemmungen, auch sozial unerwünschte Meinungen zu sagen.“ Bei Sachsen-Anhalts Landtagswahl war der von Insa erforschte AfD-Wert am nächsten am realen Wahlergebnis dran. Und Binkert ist stolz, dass sein Haus vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg als erstes die Grünen vor der CDU sah.

Und bei der Bundestagswahl? Das Rennen um Platz eins ist gelaufen, sind die meisten überzeugt. War das SPD-Zwischen-Hoch im Frühjahr wieder mal ein Demoskopen-Windei? „Nein. Der Schulz-Hype war echt“, sagt Binkert. „Aber es war eher ein Anti-Merkel-Hype. Und als die Leute merkten, Schulz ist nur eine Merkel mit Bart, war der Höhenflug für die SPD wieder vorbei.“

Gut 20 Prozent sind noch unentschlossen, ob sie am übernächsten Sonntag überhaupt ins Wahllokal gehen. Und falls doch: Wo machen sie ihr Kreuz? Sie sind die große Unbekannte. Insa fand zwei große Gruppen unter den Unentschlossenen heraus: Die einen wählten 2013 gar nicht und die anderen wählten CDU. Und 2017? Darauf mag keiner wetten. Einen Tipp wagt Insa-Chef Binkert: Die Wahlbeteiligung wird steigen. Auch wegen der AfD. „Die einen gehen, um sie zu wählen. Die anderen, um sie klein zu halten.“