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Zucker Wettrüsten für den Weltmarkt

Die Zuckerbranche steht vor einer Reform. Der europaweit regulierte Markt öffnet seine Grenzen. Der neue Wettbewerb birgt auch Risiken.

26.11.2016, 23:01

Klein Wanzleben/Könnern l Ein letztes Mal kann Landwirt Wolfgang Beer genau kalkulieren, wie viel ihm die Zuckerrübenernte einbringen wird: 30 Euro für jede Tonne zahlt der Zuckerhersteller Pfeifer & Langen in diesem Jahr. Rund 14 000 Tonnen der Rübe wird Beer, der Geschäftsführer der Gerbstedter Agrar GmbH ist, an die Zuckerfabrik in Könnern liefern können. Kampagne nennt die Branche die Zeit, in der die Rüben geerntet und in den Werken weiterverarbeitet werden.

Wolfgang Beer hat in diesem Jahr auch ein mulmiges Gefühl. Denn es ist die letzte Kampagne, in der die europäische Zuckermarktordnung die Produktion über Mengenquoten und einen Mindestpreis für die Rüben regelt. Danach ist Schluss. Nach der Milchquote fällt mit der Quote für den Zucker auch das letzte Relikt des alten europäischen Agrarmarktes.

Ab dem 1. Oktober 2017 öffnen sich die europäischen Zuckerhersteller und Zuckerrübenbauern für den Weltmarkt. „Das ist die größte Veränderung für uns seit der Wende“, sagt Wolfgang Beer. In diesem Jahr hat er auf 200 Hektar Ackerland Rüben angepflanzt. 2017 werden die Rüben auf einer Fläche wachsen, die gut doppelt so groß ist, sagt Beer. Rund 34 000 Tonnen Zuckerrüben wird die Gerbstedter Agrar GmbH dann an Pfeifer & Langen liefern. Auf diese Menge hat sich Beer mit dem Zuckerhersteller geeinigt.

Überall im Bundesland bereiten sich Landwirte und Zuckerhersteller auf die Zeit nach der Quote vor. Sachsen-Anhalts Böden gehören zu den fruchtbarsten in Deutschland. In der Magdeburger Börde, dem Raum Halle, der Querfurter Platte bis in den südlichen Teil um Naumburg und Zeitz wächst die süße Pflanze besonders gut. In diesem Jahr haben nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums mehr als 1000 Betriebe auf fast 35 000 Hektar Ackerfläche Zuckerrüben angebaut.

Die drei Zuckerhersteller haben das Land unter sich aufgeteilt: Im Norden verarbeitet Nordzucker im Werk in Klein Wanzleben die Rüben weiter, in der Mitte Pfeifer & Langen in Könnern und im Süden Südzucker in Zeitz. Nach Volksstimme-Recherchen werden alle Hersteller ihre Produktion deutlich ausweiten. Der freie Markt macht das möglich.

Udo Harten sitzt an seinem Schreibtisch in Klein Wanzleben. Der gebürtige Niedersachse leitet seit mehr als zehn Jahren das Nordzucker-Werk im Landkreis Börde. Fast 1,4 Millionen Tonnen Zuckerrüben verarbeitet die Fabrik in diesem Jahr. 90 Tage dauert die Kampagne. In dieser Zeit wird aus den Rüben feinster, kristallener Zucker. Nordzucker beliefert mit den Mengen aus Sachsen-Anhalt ausschließlich die weiterverarbeitende Industrie. Zucker aus Klein Wanzleben steckt zum Beispiel in Getränken, Backwaren oder Süßigkeiten.

Nach dem Ende der Zuckermarktordnung plant Deutschlands zweitgrößter Zuckerhersteller die Produktionsleistung des Werkes hochzufahren: Fabrikleiter Udo Harten geht von bis zu 1,8 Millionen Tonnen Zuckerrüben aus, die im kommenden Jahr in Klein Wanzleben verarbeitet werden sollen. Mindestens 120 Tage soll die Kampagne im nächsten Jahr dauern. „Wir geben Vollgas“, brummt der Norddeutsche.

Auf das Gaspedal drückt aber vor allem Nordzucker-Konkurrent Südzucker. Die Süddeutschen sind Europas größter Zuckerproduzent und geben das Tempo vor. Südzucker wittert die Chancen, die ein offener Markt bieten kann. Jahrelang diktierten die Beamten in Brüssel, wie viel Zucker die Hersteller in ihren Werken produzieren dürfen. Das starre Korsett ist ab der kommenden Kampagne Geschichte. „Europas Zuckermarkt wird nach dem Ende der Zuckermarktordnung der liberalste der Welt sein“, sagt Südzucker-Sprecher Dominik Risser. Die deutschen Platzhirsche wollen mit viel Zucker bisherige Marktpositionen verteidigen, neue besetzen und das Geschäft mit der Welt ankurbeln.

Die Ausgangsposition für diese Pläne könnte kaum besser sein. Zucker ist auf den Marktplätzen der Welt so teuer wie selten zuvor. Weißzucker lag im Oktober zeitweise bei 555 Euro pro Tonne. Das weiße Gold ist knapp geworden. Haupterzeuger Brasilien schwächelt, die Konjunktur am Zuckerhut lahmt. Ein dringend benötigtes Infrastrukturprogramm lässt auf sich warten. Fabriken, Straßen und Schienen sind marode. Hinzu kam extreme Trockenheit. Der Zuckerrohrertrag ging zurück. Auch in Indien und Thailand, zwei der größten Zuckerexporteure der Welt, brach aufgrund von Wetterkapriolen die Produktion ein. Doch in den Ländern wird daran gearbeitet, den Zuckerrohrertrag wieder hochzufahren. Dann steigt die Zuckermenge auf dem Weltmarkt, der Preis sinkt.

Die neue Zucker-Welt rüttelt die deutsche Branche durcheinander. „Willkommen in der Marktwirtschaft“, sagt Nordzucker-Direktor Udo Harten. In seiner Fabrik ließ er jeden Stein umdrehen, jeden Arbeitsschritt überprüfen. „Wir arbeiten an der Verschlankung von Prozessen, um noch effizienter und wettbewerbsfähiger zu werden“, teilt die Nordzucker-Zentrale mit. Die Braunschweiger wollen so jedes Jahr 50 Millionen Euro einsparen. „Eine Reduzierung von Arbeitsplätzen ist möglich, aber nicht erklärtes Ziel“, so eine Sprecherin.

Wolfgang Beer rechnet damit, dass der Preis in den nächsten Jahren viel stärker schwankt als früher. Die Landwirte haben sich mit der Zuckerfabrik Könnern auf zwei Vergütungsmodelle verständigt. Einige Zuckerbauern setzen auf Sicherheit, bekommen einen festen Grundpreis, der – bei steigender Nachfrage auf dem Weltmarkt – auf 28 Euro für jede Tonne Rüben ansteigen kann. Wolfgang Beer hat sich für ein flexibleres Preismodell entschieden, das sich komplett an den Erlösen mit dem Welthandel orientiert. Er ist zuversichtlich, was die nächsten Jahre angeht. Der Appetit der Welt auf Zucker dürfte noch für eine Weile anhalten, sagt er.

Doch eine Frage bleibt: Blüht den Rübenbauern das gleiche Schicksal wie den Milcherzeugern nach dem Wegfall der Quote? Sobald von einem Produkt zu viel auf dem Markt ist, sinkt der Preis. Aber: Im Gegensatz zu einem Milchviehhalter, der langfristig planen muss und für Stallbauten sehr hohe Investitionskosten hat, ist ein Ackerbauer viel flexibler. „Es droht keine Zuckerkrise, weil Bauern die Rübenmenge von Jahr zu Jahr anpassen können“, sagt Wolfgang Beer.

Die Rübenbauern haben in den vergangenen Jahren Kosten gesenkt. Beers Gerbstedter Agrar GmbH hat mit anderen Betrieben eine Rodegemeinschaft gegründet. Große Investitionen – wie die rund eine halbe Million Euro teuren Rübenroder – stemmen die Unternehmen gemeinsam. „Diese Zusammenarbeit hat sich bewährt und hat zu deutlichen Produktionsvorteilen für Zuckerrüben geführt“, sagt Wolfgang Beer.

Die Sonne senkt sich langsam über die im Erdreich schlummernden Rüben. Auf einem Feld bei Gerbstedt zieht ein Roder die Früchte aus dem Boden. Maxtron heißt die Maschine, die besonders schonend mit den Rüben umgehen soll. Viele Landwirte haben in den vergangenen Jahren bei Erntetechnik, Saat und Ertrag einen Sprung nach vorne gemacht. Diese Fortschritte sollen im kommenden Jahr helfen, wenn die Zuckerindustrie in Sachsen-Anhalt das Geschäft mit der Welt angeht.