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ZugunglückDie Katastrophe von Langenweddingen

1967 kollidieren in Langenweddingen bei Magdeburg ein Zug und ein Tanklaster. 94 Menschen sterben.

04.07.2017, 23:01

Magdeburg l Es ist der 6. Juli 1967. Ein herrlicher Sommertag. Rosemarie Förster fährt früh am Morgen mit der Straßenbahn von Magdeburg-Neustadt nach Buckau. Die 17-Jährige arbeitet im Ernst-Thälmann-Werk als Telefonistin. Wie immer ist morgens viel zu tun. Die Arbeit fällt ihr nicht nur aufgrund der schwülen Temperaturen schwer. Rosemarie Förster ist im siebenten Monat schwanger.

Nach acht Uhr häufen sich die Anrufe. Drei Begriffe fallen immer wieder. Langenweddingen, Bahnübergang, Unfall. Sie fragt ihre Kolleginnen: Was ist da passiert? Nach und nach dämmert ihr, von welchem Zug die Rede ist. Es ist die Bahn, mit der ihre beiden Schwestern Angelika (14) und Renate (9) ins Ferienlager in den Harz unterwegs sind. In diesem Moment bricht die junge Frau zusammen. Kollegen bringen sie in ein nahegelegenes Krankenhaus.

Magdeburg, Juni 2017: Rosemarie Förster heißt heute Schauer. Sie sitzt mit Ehemann Rudi in ihrem Garten in Magdeburg. Die 67-Jährige, wache Augen, graue kurze Haare, legt zwei Fotos auf den Tisch. „Das sind sie, Angelika und Renate. Heute ist einer dieser Tage, an denen es besonders schlimm ist. Vor wenigen Tagen wäre Angelikas 64. Geburtstag gewesen“, sagt sie und streicht über das vergilbte Bild.

Rosemarie und die drei Jahre jüngere Angelika sind zwei von sechs Töchtern der Försters. Rosi, wie sie von allen genannt wird, muss früh viel Verantwortung übernehmen. Nach der achten Klasse melden ihre Eltern sie von der Schule ab. „Wir brauchen deine Hilfe, alleine schaffen wir es nicht“, sagen sie zu ihrer ältesten Tochter. Für ihre Schwestern wird sie zur Ersatzmutter. Erledigt die Hausarbeit, zieht die Kleinen morgens an und bringt sie abends ins Bett. Die drei Jahre jüngere Angelika und sie sind ein Herz und eine Seele. Als ihre Schwester erfährt, dass Rosi ein Kind erwartet, ist sie völlig aus dem Häuschen. „Sie saß dann immer neben mir und horchte an meinem Bauch“, sagt Rosi Schauer.

Auch am Abend vor den tragischen Ereignissen. Rosi verabschiedet ihre Schwestern, am nächsten Morgen muss sie früh aufstehen und arbeiten. Angelika weint. „Sie wollte nicht verreisen, sondern lieber bei mir bleiben“, erinnert sich Rosi Schauer. Am Morgen des 6. Juli bringt Vater Förster die Mädchen zum Magdeburger Hauptbahnhof. Angelika und Renate nehmen im ersten der acht Doppelstockwagen des Personenzuges Platz – direkt hinter der Lok und dem Packwagen. Ihr Ziel, den Bahnhof von Thale, werden sie nicht erreichen.

 Juni 2017: Rosi Schauer erinnert sich daran, wie sie an jenem 6. Juli 1967 nach ihrem Zusammenbruch vom Krankenhaus im Taxi nach Hause gefahren wird. Ihr Kreislauf ist wieder stabil, nun beginnt das Warten. „Dass Angelika und der kleinen Renate etwas passiert sein könnte, daran habe ich zu dem Zeitpunkt noch nicht denken wollen“, sagt sie. Um zwei Uhr erhält die Familie die Horror-Botschaft. Bei der Kollision des Zuges mit einem Tanklaster sind 77 Menschen verbrannt. Allein 44 Kinder kommen ums Leben – darunter Angelika und Renate.

Die Familie schottet sich eine Woche von der Außenwelt ab, weint, trauert. Die kleineren der Schwestern, Gabi (7) und Andrea (5), verstehen nicht, was los ist. „Wann kommen Angelika und Renate wieder?“, fragen sie. Rosi weiß nicht, was sie antworten soll. Dass Angelika nie wieder ihren Lockenkopf an sie schmiegen wird, der Gedanke will ihr nicht in den Kopf. Jeden Tag kommt ein Arzt vorbei, um den Zustand der Schwangeren zu kontrollieren. Rosi macht sich zunehmend bewusst, dass sie stark sein muss. Zum Wohl ihres Kindes. Rund vier Wochen nach dem Unglück setzen die Wehen ein, vier Wochen zu früh. Die Geburt läuft reibungslos. Mario ist das erste von zwei Kindern. „So hart es klingt. Seine Geburt hat mir geholfen, die Trauer über den Tod von Angelika und Renate zu verdrängen“, sagt die 67-Jährige heute.

Juni 2017: Sohn Mario wird in wenigen Wochen 50. Die Schauers erinnern sich noch einmal an das Begräbnis von Angelika und Renate fünf Tage nach dem Unglück. Die schwangere Rosi wird die Zeremonie lediglich am Fernseher verfolgen, Rudi ist auf dem Westfriedhof. Hunderte Angehörige und Trauergäste sind gekommen, mehr als 50 Särge aufgereiht. An jedem steht ein Soldat – viele von ihnen haben ebenfalls Tränen in den Augen. Einige Tote liegen in einem Sammelgrab – nicht identifizierbar aufgrund der Verbrennungen. Der Leichnam von Angelika konnte anhand der Zähne identifiziert werden, Renate an den Riemchen ihrer Sandalen.

Die Ereignisse und Bilder von Juli 1967 sind bis heute im Gedächtnis vieler allgegenwärtig. Rosi Schauer besucht regelmäßig die Gräber ihrer Schwestern. „Es fühlt sich noch immer so unwirklich an“, sagt sie. „Sie waren beide doch noch so jung.“