Handball Der sanfte Riese

Mit 2,10 Metern ist Europameister Finn Lemke nicht zu übersehen. Im normalen Leben hält sich der Abwehrchef lieber im Hintergrund.

Von Janette Beck 01.08.2016, 01:01

Magdeburg l Pünktlich ist Finn Lemke ja, auf die Minute. Doch obwohl der Abwehr-Riese bereits mit seinem zehn Monate alten Dalmatiner-Rüden Nemo eine Runde spazieren war und gefrühstückt hat, sieht er aus, als sei er gerade aus dem Bett gefallen: Blass im Gesicht, die Haare wuschelig, das schwarze T-Shirt, das hinten aus der Jeanshose hängt, ist voller weißer, kurzer Haare.

Für beides hat der 24-Jährige eine simple Erklärung: „Ich achte nicht so auf Äußerlichkeiten und bin alles andere als eitel.“ Und für die Härchen auf dem Shirt sei Nemos „Überfall“ verantwortlich. Angesichts der drohenden Trennung an der Haustür verspürte der Racker plötzlich ein Defizit an Streicheleinheiten. Da konnte Herrchen natürlich nicht Nein sagen.

Dass er ausgerechnet Nemo findet (oder umgekehrt), „war Schicksal“, plaudert Lemke aus dem Nähkästchen eines Hundebesitzers. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, herausgepickt aus einem großen Dalmatiner- Welpen-Knäuel. Und er erzählt, wie fassungslos und traurig er war, als ihn im Trainingslager in Kiel im November völlig unerwartet eine Hiobsbotschaft erreichte: Eine Untersuchung hatte ergeben, dass Nemo taub ist. „Das war im ersten Moment ein Riesenschock.“ Gedanken daran, den Hund wegzugeben, habe es dennoch nie gegeben. „Klar macht das Handicap die Erziehung und das ganze Drumherum etwas schwieriger und zeitaufwendiger. Aber es sollte eben so sein. Wir betrachten Nemo als Geschenk und sehen unsere Aufgabe darin, ihm das bestmögliche Leben zu bieten, was er trotz seiner Behinderung haben kann.“

Die Geschichte, die sich um den Vierbeiner rankt, ist irgendwie bezeichnend, wenn es darum geht, den Menschen hinter dem hünenhaften EM-Helden zu ergründen. Und bei zwei Tassen Kaffee und 90  Minuten Plauderei über Gott und die Welt wird deutlich, dass der Finn Lemke auf dem Handballfeld und in seinem „Tunnel“, in dem er sich seit der Vorbereitung auf Rio wieder befindet, ein ganz anderer ist als der Finn Lemke im normalen Leben. Ein sanfter Riese eben, der so gar nicht in das Raster der vielbeschriebenen „Bad Boys“ passen will:

Finn Lemke – Teil einer fünfköpfigen Familie, in der Handball groß geschrieben wird. Sowohl Vater Jan-Peter als auch Mutter Kirsten haben hochklassig gespielt und ihre Leidenschaft an ihre Söhne weitergegeben: Lemkes großer Bruder Torben spielt in Aurich in der 3. Liga, der kleine Bruder Jari in Lemgos Zweiter ebenfalls.

Finn Lemke – ein bekennendes „Dorfkind“, geboren in Bremen, aufgewachsen in Schwanewede. Schüchtern und trotz seiner Größe unauffällig. Ein Leisetreter, der sich am wohlsten zu Hause auf dem Magdeburger Werder fühlt – in seinem Mikrokosmos aus Freundin-Hund-Drei-Zimmer-Wohnung. „Ich bin ,Stino‘ – stinknormal und langweilig“, beschreibt er sich selbst. Mit einer Schwäche: „Ich esse gerne und viel. Am liebsten selbstgemachte Burger mit Pommes.“

Finn Lemke – der mit 13 Jahren im Rahmen eines Schul-Praktikums in einer Physiotherapie erstmals mit Behinderten in Kontakt kam. Das weckte sein Interesse, mit geistig oder körperlich benachteiligten Menschen zusammenzuarbeiten, sie zu unterstützen und zu fördern und zog letztlich weitere Praktika in Schottland sowie in Stiftungen in Bremen und Lemgo nach sich. Heute bezeichnet er es als „glückliche Fügung“, dass seine innere Berufung in ein Studium für soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal mündet. „Ein Studium, das ich ernst nehme und das mir wahnsinnig gut gefällt. Ich brauche das einfach, um die Balance zu halten und Abstand vom Handballkosmos zu bekommen.“ Denn der, das weiß Lemke, „hat mit der realen Welt draußen, mit den Sorgen und Nöten normaler Menschen, nicht viel gemeinsam.“

Finn Lemke – der medienscheue Handball-Star, der unumwunden zugibt, dass ihm der Hype um seine Person während und nach der EM „suspekt, ja irgendwie beängstigend war“. Deshalb hat er sich danach in seinen Mikrokosmus zurückgezogen und in der Öffentlichkeit rar gemacht. Und auch der Pokalsieg mit dem SCM hat nichts daran ändern können, dass er nach wie vor lieber im Hintergrund bleibt. „Es ist einfach nicht mein Ding, im Mittelpunkt zu stehen.“

Das verwundert umso mehr, denn da gibt es ja den anderen Finn Lemke – der kompromisslos zupackende Abwehrchef des DHB-Teams. Der Arbeiter, der nach links und rechts verschiebt, sich mit dem ganzen Körper dem gegnerischen Spieler entgegenstellt und Mauern errichtet.

Finn Lemke – der vom Drittligisten HSG Schwanewede/Neuenkirchen über den TBV Lemgo 2015 zum SC Magdeburg kam und sich innerhalb von sechs Jahren vom „schlafenden Riesen“ zum Erfolgsgaranten des EM-Titels entpuppte. Ein Mitspieler, über den Teamkollege Steffen Weinhold sagt: „Er hat Feuer in den Augen. Er hat eine gute Ausstrahlung, eine gute Präsenz, reißt die anderen mit.“ Auch Nationalkeeper Andreas Wolff beteuert, sich hinter dem Rückraum-Riesen sicher zu fühlen, „weil Finn ein sehr guter Abwehrchef ist. Man kann sich glücklich schätzen, so einen Spieler im Team zu haben.“

Finn Lemke – der Anführer der „Bad Boys“ – auch in Rio. Der Einpeitscher, der sein Team in der Kabine brüllend auf den Gegner einschwört, als gebe es nichts anderes als einen Sieg: „Heute ist unser Tag. Heute kann uns niemand schlagen!“

Geht es nach Wolff, der im Vorfeld von Rio vorprescht und mutig von Olympia-Gold spricht, wird es auch am 21.  August, dem Tag des olympischen Handball-Finals, eine solche oder ähnliche Ansprache des Magdeburgers geben. Der Druck, der auf Finn Lemke lastet, wird riesig sein. Doch für ihn ist es sicher eine Erleichterung zu wissen, dass er von Nemo & Co. bereits sehnlichst zurückerwartet wird. Egal, ob er eine Medaille in der Tasche hat oder nicht – die Freude wird überschwänglich sein. Wichtig ist nur: Finn Lemke – der sanfte Riese ist wieder daheim.