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Wechsel Dercon: Volksbühne bleibt ein politisches Theater

Kaum ein Intendanten-Wechsel sorgt für so viel Aufsehen. Der belgische Museumsmann Chris Dercon löst das Volksbühnen-Urgestein Frank Castorf ab. Jetzt spricht Dercon über seine Pläne.

Von Interview: Elke Vogel, dpa 16.05.2017, 14:30

Berlin (dpa) - An der Berliner Volksbühne wird derzeit jeden Abend Abschied gefeiert. Für die letzten Vorstellungen unter der Intendanz von Frank Castorf sind nur noch schwer Karten zu bekommen.

Was hat Chris Dercon (58) als neuer Chef mit dem Theater vor? "Die Volksbühne bleibt ein politisches und ein sozial engagiertes Theater", verspricht der neue Chef im Interview der Deutschen Presse-Agentur.

Frage: Gibt es ein Motto, mit dem Sie Ihre erste Spielzeit überschreiben würden?

Antwort: Nein, kein Spielzeitmotto, aber so etwas wie ein Grundton: We want to be free! Das hat mit der Geschichte der Volksbühne zu tun. Die Volksbühne steht seit dem Jahr 1914 für die Freiheit der Kunst. Es geht um die Freiheit der Theaterkunst, die Freiheit der Künstler und die Freiheit des Publikums, aber auch um die Freiheit für uns. Das Grundgerüst unseres Programms steht jetzt mit allein zwölf großen Premieren plus vier Online-Premieren in der ersten Hälfte der Spielzeit. Es gibt aber auch noch einige leere Zimmer und offene Fenster - damit wir Neues ausprobieren können. Die ersten Monate unseres Programms stehen für einen Dialog mit dem Publikum über die Fundamente des Theaters.

Frage: Sie fragen mit den Mitteln des Theaters nach der Bedeutung des Theaters...

Antwort: Vielleicht ist das Theater das am besten geeignete Medium, um sich über unsere Zeit auszutauschen. Wir wollen sehr leise, aber präzise anfangen. Die Castorf-Maschine hat konstant gebrummt. Wir fangen mit sehr leisen Tönen an. Deswegen sprechen wir über Fundamente und über Partikel. Wir fangen im September auf Tempelhof an mit bewegten Körpern – drei große Choreografien des Franzosen Boris Charmatz. Wir fangen an mit den Stimmen von Flüchtlingsfrauen: Mohammad al Attar und Omar Abusaada inszenieren das Stück "Iphigenie" nach Euripides mit 15 syrischen Frauen. Und wir haben die sehr kräftige, junge Stimme der britischen Rapperin Kate Tempest.

Frage: Kehrt die Volksbühne nach dem lauten Castorf-Theater mit dem Anfang der leisen Töne zu mehr Poesie zurück?

Antwort: Das ist keine Reaktion. Wir brauchen diesen Bruch. Das finden wir wichtig. Nach dem Auftakt in Tempelhof kommen wir im November dann an die Volksbühne. Mit dem Fokus auf die Fundamente des Theaters – Stimme und Sprache in den Monologen Samuel Becketts, auf die Leere bei Tino Sehgal, Raum und Licht in Apichatpong Weerasethakuls "Fever Room" und Schauspielerinnen hinter Masken bei Susanne Kennedy.

Frage: Was wird in der digitalen Volksbühne geboten?

Antwort: Eine der ersten Produktionen ist "Rheingold" von Jan Bonny und Alex Wissel, eine Web-Serie über den Kunstmarkt, die wir in der Volksbühne produzieren und drehen. Wir wollen untersuchen, wie theatralische Erzählformen in einer digitalen Spielstätte weiterentwickelt werden können. Die Premieren finden online statt und sind offen für jeden. Es gibt immer mehr Regisseure, die mit dieser Idee arbeiten, einer Art Medientheater. Das sieht man zum Beispiel auch bei den zum derzeit laufenden Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen "Drei Schwestern" von Simon Stone und "Die Borderline Prozession - Ein Loop um das, was uns trennt" von Kay Voges.

Frage: Castorfs Volksbühne schrieb sich immer das politische Theater auf die Fahne. Wie politisch wird die neue Volksbühne?

Antwort: Die Volksbühne bleibt ein politisches und ein sozial engagiertes Theater. Die Künstler unserer ersten Spielzeit erzählen von den Erfahrungen des Krieges in "Iphigenie" auf Tempelhof oder von Sexualität, Macht und Körperpolitik in Mette Ingvartsens "Red Pieces", um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber uns geht es auch um die eigenen Strukturen im Haus, die Hierarchien, die Verbindungen in die Stadt. Die Kunst an sich, wann immer sie die Freiheit betont und sich die Freiheit nimmt, ist sehr politisch. Deswegen, we want to be free.

Frage: Wie wird das künftige Schauspiel-Ensemble der Volksbühne aussehen?

Antwort: Wie bei Castorf werden wir mit einem gemischten Ensemble arbeiten, mit fest engagierten Künstlern und mit Gästen, mit denen wir immer wieder zusammen arbeiten wollen. Aktuell sind von 27 Ensemblestellen an der Volksbühne 11 besetzt. Von diesen 11 werden 3 weiter mit uns arbeiten: Sir John Henry, Silvia Rieger und Sophie Rois, die aber erst einmal Gastierurlaub hat. Wir beginnen mit Stückensembles, und ab dem Beginn der Spielzeit werden wir das eigentliche Ensemble dann langsam wieder aufbauen, aber nicht nur mit Schauspielerinnen und Schauspielern. Man muss mit einer festen Truppe von Leuten operieren können. Das kontinuierliche Arbeiten ist für mich ganz entscheidend.

Frage: Sie werden seit Monaten angefeindet. Wie gehen Sie mit den teils sehr unsachlichen Kommentaren um?

Antwort: Das ist nicht leicht. Es gibt gute und schlechte Tage. Und man lernt viel über sich selber. Es ist nicht immer inspirierend, aber es gibt auch Momente, da sage ich: Hah, so hatte ich über mich selbst noch gar nicht nachgedacht. Aber jetzt möchte ich nach vorne schauen.

Frage: Sind Sie ein Mensch, der Lampenfieber bei so großen Momenten wie einer Theatereröffnung hat?

Antwort: Nein. Ich mache das sehr gerne. Ich fühle mich dann aufgehoben, weil ich Teil eines Teams bin. Ich bin kein Einzelgänger.

Frage: Wie entspannen Sie sich?

Antwort: Ich stehe gegen 4.30 Uhr auf. Die sehr frühen Morgenstunden sind ganz für mich allein reserviert und ersetzen jede Form von Yoga oder anderen Techniken. Für mich ist es eine Form von Meditation. Da bin ich Intendant meiner Zeit.

ZUR PERSON: Der Belgier Chris Dercon (58) war zuletzt Direktor des Londoner Museums Tate Modern. Von 2003 bis 2011 leitete er das Haus der Kunst in München. Dercon löst den langjährigen Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf ab, der das Theater nach 25 Jahren verlässt. Dem Kulturmanager Dercon schlägt seit seiner Berufung zum Volksbühnen-Intendanten aus der Kulturszene große Skepsis entgegen. Kritiker fürchten, dass der Museumsmann und Kunstexperte die Volksbühne zu einer "Eventbude" macht.

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