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In der Gegenwart gefangen Christopher Clark über Herrschaft und Zeit

In seinem Bestseller "Die Schlafwandler" beschrieb Christopher Clark den Beginn des Ersten Weltkriegs - und entfachte eine heftige Diskussion. Jetzt blickt der Australier auf Deutschland.

Von Esteban Engel, dpa 20.11.2018, 11:40

Berlin (dpa) - "Make America Great Again" - der Wahlkampfspruch hat Donald Trump den Weg ins Weiße Haus geebnet.

Mit seiner Botschaft, die USA wieder zu alter Größe führen zu wollen, griff Trump auf einen uralten Trick der Politik zurück: Wer als Herrscher die Menschen durch das heutige Tal der Tränen leiten will, muss zunächst eine glorreiche Vergangenheit beschwören - und dann eine goldene Zukunft verheißen. Bei Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan ist das nicht viel anders.

"Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit", schreibt der australische Historiker Christopher Clark in der Einleitung zu seinem neuen Buch "Von Zeit und Macht". Könige und Kanzler, Despoten oder Demokraten - Regierende, so Clarks These, berufen sich immer wieder auf die Geschichte, um ihre Stellung hier und heute zu begründen. Das Spiel mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehört zur Grundausstattung der Macht.

Die französischen Könige sahen sich zum Beispiel als Teil einer jahrhundertealten Dynastie. Die Kontinuität der verschiedenen und teils rivalisierenden Adelshäuser war konstruiert. Die Französische Revolution proklamierte dann den Bruch mit der Geschichte und führte eine neue Zeitrechnung sowie einen neuen Kalender ein.

Mit vier Beispielen aus Deutschland zeichnet Clark auf rund 300 Seiten das Verhältnis von Herrschaft und Zeit nach. Das Buch beruht auf einer Vortragsreihe der Universität Princeton. Der Cambridge-Professor ist ein profunder Kenner der deutschen Geschichte. Sein Preußen-Buch wurde preisgekrönt, mit den "Schlafwandlern" über den Beginn des Ersten Weltkriegs landete Clark einen Bestseller und löste damit eine heftige Debatte über die Kriegsschuld aus.

Der Historiker fragt nun, wie Machthaber die Zeit und ihre Wahrnehmung nutzen - auch im Kampf gegen ihre Gegner. Deutlich wird das etwa beim Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688). Nach dem traumatischen Dreißigjährigen Krieg musste er die Herrschaft der Hohenzollern in Brandenburg gegen die Stände begründen und festigen. Die Argumente lieferte ihm der Hofhistoriker Samuel von Pufendorf (1632-1694). Der Staat solle sich von den Fängen der Geschichte befreien und eine neue Ära begründen. Vergesst' die alten Griechen und Römer und konzentriert euch auf die eigene Zeit, postulierte Pufendorf.

Anders beim Urenkel des Kurfürsten: Friedrich der Große (1712-1786) sah sich als "Vollendung der Geschichte" und menschgewordene Vernunft. Zeit und Macht fallen in seiner Person zusammen. Ein Jahrhundert später wechselt Otto von Bismarck (1815-1898) dann zwischen Vergangenheits-Verklärung und Zukunfts-Optimismus und positioniert sich als "Steuermann im Strom der Zeit".

Die Nazis treten mit ihrem "Tausendjährigen Reich" brutal aus der Geschichte aus. Mit ihrer Vorliebe für Endzeit-Prophezeiungen sehen sie Geschichte als "rassisch definiertes Zeitkontinuum". Besonders brutal wird das im Vokabular der Vernichtung deutlich, etwa in Worten wie "Endkampf", "Endlösung" oder "Endsieg".

Mit vielen Details fügt Clark seine Betrachtungen zu einer anregenden - aber nicht immer leicht zu lesenden - Darstellung über "Zeitlandschaften" zusammen. Dabei zieht er Autoren anderer Disziplinen hinzu - vom Philosophen Henry Bergson bis zur Feministin Judith Butler.

Geschrieben habe er das Buch unter dem Getöse der Brexit-Kampagne in Großbritannien. Dabei erinnert Clark an Boris Johnson, den schrillsten unter den Brexit-Befürwortern, der auch Autor einer Biografie Winston Churchills ist (Untertitel: "Wie ein Mann Geschichte machte"). Die Brexit-Kampagne, so der Australier, sei beseelt von der Beschwörung einer idealisierten Vergangenheit. Das verblichene Empire übe eben auf Teile der herrschenden Klasse in Großbritannien noch immer einer große Faszination aus.

In der Epoche des Großen Kurfürsten habe man auf künftige
Gefahren hingewiesen, um Machtkonzentration zu rechtfertigen. Heute fehle eine zentrale staatliche Struktur, um die Herausforderungen der Gegenwart wie den Klimawandel zu meistern. Deswegen warnt Clark am Ende: Wenn die Staaten nicht imstande seien, glaubwürdige Zukunftsvisionen hervorzubringen und der Gesellschaft dafür die nötigen Mittel fehlen, "dann sind wir wahrlich in der Gegenwart gefangen".

- Christopher Clark: Von Zeit und Macht - Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, DVA, 26 Euro, ISBN: 978-3-421-04830-1

Von Zeit und Macht