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Dramatisch Der Moment, der alles veränderte

Er ist nur ein einfacher Mann, ein Optiker auf einer entlegenen Mittelmeerinsel. Doch dann wird er Zeuge einer Katastrophe und zum Herrn über Leben und Tod.

Von Sibylle Peine, dpa 22.08.2017, 10:08

Berlin (dpa) - Das Unglück ist schon eine Weile her. Es geschah noch vor der großen Flüchtlingswelle, war ein Vorbote weiterer Katastrophen, die noch kommen sollten.

Die meisten haben das Schiffsunglück vom Oktober 2013 vor der Küste der kleinen Insel Lampedusa natürlich längst vergessen, für den Optiker Carmine Menna aber war es das Ereignis seines Lebens, das alles veränderte. Er rettete 47 Menschen aus dem Wasser, Flüchtlinge, die ohne Mennas Hilfe und die seiner Freunde ertrunken wären.

Die BBC-Reporterin Emma Jane Kirby hat sich intensiv mit Carmine Mennas außergewöhnlicher Geschichte beschäftigt und zahlreiche Interviews mit ihm geführt. Sie war so fasziniert von dem Schicksal dieses Lebensretters, dass sie nicht nur eine Reportage, sondern einen literarischen Essay daraus gemacht hat. Ihr Buch "Der Optiker von Lampedusa. Die Geschichte einer Rettung" knüpft an die wahren Begebenheiten an, ist aber Fiktion. Es ist die zutiefst berührende und mitreißende Erzählung über einen Mann, der durch den Zufall des Augenblicks vom teilnahmslosen Beobachter zum Akteur wird, die Geschichte eines Anti-Helden.

Carmine Menna, im Buch einfach nur "der Optiker" genannt, führt auf Lampedusa ein beschauliches Leben. Seine Kundschaft besteht meist aus norditalienischen Touristen, die im Sommer auf die abgelegene Insel kommen und denen er eine kaputte Sonnenbrille repariert oder eine verloren gegangene Kontaktlinse ersetzt. Zwar registriert der Optiker die Flüchtlinge, die in immer größerer Zahl auf der Insel stranden, aber er nimmt sie nur im Vorbeigehen als Statisten wahr: "Eine kleine Gruppe afrikanischer Männer, die in die Stadt wollen, schlurft ihm entgegen. Im Vorbeilaufen winkt er ihnen zu, und im Gegenzug murmeln sie einen schüchternen Gruß. Verrückt, denkt er, dass sie alle hier auftauchen, wo dieses Land ihnen doch herzlich wenig zu bieten hat."

Seine Freizeit verbringt der Optiker am liebsten auf dem Wasser. So macht er sich auch an einem freundlichen Tag im Oktober zusammen mit seinen Freunden zu einer Bootstour auf, genießt noch einmal beschwingt "die Zuversicht des Sommers". Die fröhliche Stimmung kippt, als die Crew auf dem Wasser auf einmal ein Geräusch vernimmt, das sich erst wie Möwengekreisch anhört und dann wie tierisches Heulen.

Aber es sind Menschen, Menschen, die um ihr Leben schreien: "Auf der gläsernen Meeresoberfläche waren Körper wie umgestoßene Sportkegel verstreut, einige hüpften gefährlich auf und nieder, andere lagen horizontal und entsetzlich schwer auf den Wellen." Hunderte Flüchtlinge drohen vor den Augen der Freunde zu ertrinken, sie aber sind nur acht Leute und haben nur einen Rettungsring. Der Optiker begreift, "dass er würde entscheiden müssen, wer leben durfte und wer sterben musste". Er wird zum Herr über Leben und Tod, eine Entscheidung, die jeden Menschen überfordert.

Dramatische, fast in Zeitlupe abspulende Bilder fangen das Existentielle dieser Situation ein, so spürt der Optiker die Finger der ersten schwarzen Hand, die nach ihm greift: "Wie sie sich in meine zementierten, Knochen, die an Knochen rieben, wie sie sich mit so eisernem Griff festkrampften, dass ich die sehnigen Adern des Handgelenks pulsieren sah. Die Kraft dieses Griffs!"

47 Menschen können der Optiker und seine Freunde mit letzter Kraft lebend aus dem Wasser ziehen. Erst viel später aber werden sie erfahren, dass Hunderte andere Flüchtlinge schon ertrunken waren, weil ihr Boot bereits Stunden vorher gekentert war und ein italienisches Schiff Rettung verweigerte.

Der Optiker wird einige der Überlebenden später bei einer offiziellen Gedenkfeier wiedertreffen. Da geht das Sterben auf dem Meer längst weiter. Zu viele Bilder, zu viele Nachrichten über Flüchtlinge haben uns abstumpfen lassen. Dieser kleine, zutiefst menschliche Roman ist da wie ein Weckruf, um uns an die vielen traurigen Schicksale jener Menschen zu erinnern, die weiter auf dem Mittelmeer ertrinken.

- Emma Jane Kirby: Der Optiker von Lampedusa. Die Geschichte einer Rettung, Berlin Verlag, Berlin, 160 Seiten, 16,00 Euro, ISBN 978-3-8270-1346-0.

Der Optiker von Lampedusa