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Zwischen den Stühlen Erich Kästner im Krieg: Banalitäten und Bombennächte

Die Nazi-Jahre verbringt der Nazi-Gegner Erich Kästner nicht wie andere berühmte Schriftsteller im Exil, sondern in der Heimat. Sein jetzt neu veröffentlichtes "Kriegstagebuch" fasziniert als authentischer Zeitzeugenbericht - und endet mit dem Auschwitz-Schock.

Von Werner Herpell, dpa 06.03.2018, 10:53

Berlin (dpa) - Man kann sich das in etwa so vorstellen: Am 16. Januar 1941, einem Donnerstag, setzt sich Erich Kästner in seiner Berliner Wohnung an den Schreibtisch. Der 41-Jährige schlägt ein Buch mit blauem Einband und vielen leeren Seiten auf. Dann beginnt der große Schriftsteller der Weimarer Republik zu schreiben.

"Der Entschluss ist gefasst. Ich werde ab heute wichtige Einzelheiten des Kriegsalltags aufzeichnen", notiert Kästner und liefert die Begründung im ersten Eintrag gleich mit: "...damit ich sie nicht vergesse, und bevor sie, je nachdem wie dieser Krieg ausgehen wird, mit Absicht oder auch absichtslos allgemein vergessen, verändert, gedeutet oder umgedeutet sein werden".

Der Mann, der am 10. Mai 1933 Augenzeuge der Verbrennung seiner Bücher geworden war, den die Nazis seit ihrer Machtübernahme als Regimegegner kaltgestellt hatten, hält in seinem "Kriegstagebuch" bis 1945 unzählige "Einzelheiten" fest: manche Banalitäten über das Alltagsleben im noch lange intakten, mondänen Berlin, riskante Flüsterwitze über Adolf Hitler und den Kriegsverlauf, das Grauen der Bombennächte, Gerüchte über Judenverfolgungen und Widerstand. Und Kästner kommentiert - erstaunlich gut informiert dank vieler Stunden in Restaurants sowohl mit Gegnern des Nationalsozialismus als auch mit dessen Anhängern - das große Ganze des Zweiten Weltkriegs.

Mit einer so sachlichen wie erschütternden Nacherzählung der KZ-Berichte eines Auschwitz-Häftlings enden die Aufzeichnungen am 29. Juli 1945. Hier ist der Lebemann Kästner, der Journalist und Vorzeigeautor der Neuen Sachlichkeit, mit seiner fast immer nüchtern-distanzierten, gelegentlich auch ironisch-süffisanten Innenansicht der NS-Diktatur am Ende. Der Schock über den Horror des Holocausts lässt ihn sein blaues Buch zuklappen.

Ein Opus magnum über das Dritte Reich, für das sein Tagebuch eine Stoffsammlung sein sollte, wird Kästner bis zu seinem Tod 1974 nie schreiben - vielleicht auch weil er erkannte, dass er dies nach Auschwitz in seinem typischen Stil nicht leisten konnte. So bleibt es bei Skizzen und Fragmenten für einen Gesellschaftsroman zur Nazi-Zeit. Dabei war dieses Projekt Kästners Begründung, weshalb er im Gegensatz zu Schriftstellerkollegen wie Thomas und Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Anna Seghers oder Carl Zuckmayer während der zwölf dunklen Jahre in Deutschland blieb - neben der engen Bindung an die in Dresden lebende Mutter.

Kästner weiß um die Gefahren in der Diktatur, er versteckt den unauffälligen blauen Band zwischen 4000 anderen Büchern in seiner Wohnung - nimmt ihn aber bei Bombenalarmen mit, um eine Vernichtung im brennenden Berlin möglichst zu verhindern. Viele Jahre später landet die Kladde im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar.

Nach der Erstveröffentlichung für einen kleinen Fachkreis (2006) ist "Das Blaue Buch: Geheimes Kriegstagebuch 1941-1945" nun als sorgfältig kommentierte und erweiterte Edition in Kästners Schweizer Verlag Atrium erstmals für ein breites Publikum erschienen. Es ist eine spannende, lohnende Lektüre für jeden, der eine authentische Zeitzeugenschilderung des furchtbarsten Kapitels der deutschen Geschichte sucht.

Da Kästner während der Jahre 1942 und 1944 überhaupt nichts in sein Tagebuch schrieb, muss man auf seine Gedanken etwa zur alliierten Invasion in Frankreich oder zum Stauffenberg-Attentat auf Hitler verzichten. Aber er hat beispielsweise die endgültige Kriegswende mit der verlorenen Schlacht von Stalingrad vor 75 Jahren sehr schnell sehr treffend analysiert.

Vom Widerstand der Geschwister Scholl erfährt er Anfang März 1943 und schreibt dazu: "Über München hörte ich vor Tagen merkwürdige Dinge. (...) Von mehreren Seiten: dass Studentenunruhen stattgefunden hätten; (...) Flugzettel seien verteilt und vier Studenten seien hingerichtet worden."

Aus heutiger Sicht befremdlich lesen sich Kästners Kommentare zur deutschen Opfer-Rolle nach Kriegsende: "Da haben nun die drei größten Mächte der Erde fast sechs Jahre gebraucht, um die Nazis zu besiegen, und nun werfen sie der deutschen Bevölkerung, die antinazistisch war, vor, sie habe die Nazis geduldet. Deutschland ist das am längsten von den Nazis besetzte und unterdrückte Land gewesen (...)."

Mehrfach widerspricht Kästner, der während der NS-Jahre Juden und Verfolgten geholfen hatte, ohne später viel Aufhebens darum zu machen, im Tagebuch einer Kollektivschuld-These gegen "die anständige deutsche Bevölkerung". Und er wirft Kritikern seines Ausharrens im Nazi-Deutschland, seiner Durchwurstelei abseits von Mitläufertum und echtem Widerstand, Selbstgerechtigkeit vor.

Erst viel später räumt der Georg-Büchner-Preisträger von 1957 ein, dass sein Weg vielleicht nicht der optimale war. Zur eigenen inneren Emigration schreibt Kästner ein kleines Gedicht: "Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen./Mich lässt die Heimat nicht fort./Ich bin wie ein Baum, der - in Deutschland gewachsen -/wenn's sein muss, in Deutschland verdorrt."

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki erteilt ihm 2006 eine Art Absolution: "In der Zeit von 1933 bis 1945 hatte er, der Mann zwischen den Stühlen, sich klar entschieden. Nicht er war emigriert, doch waren es seine Bücher - sie konnten damals nur in der Schweiz erscheinen. Erich Kästner war Deutschlands Exilschriftsteller honoris causa." Das "Exil" des Intellektuellen Kästner in der barbarisch gewordenen Heimat lässt sich mit der Neuveröffentlichung seines Kriegstagebuchs nun besser verstehen.

- Erich Kästner: "Das Blaue Buch: Geheimes Kriegstagebuch 1941-1945". Herausgegeben von Sven Hanuschek,? Ulrich von Bülow,? Silke Becker. Atrium Verlag Zürich. Geb. Ausgabe, 405 Seiten, 32 Euro, ISBN: 978-3855350193: