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Wiederentdeckung Gabriele Tergits Erinnerungen und ihr "Käsebier"

Gabriele Tergit war die erste deutsche Gerichtsreporterin in der Weimarer Republik und schrieb mit ihrem sozialkritisch-satirischen Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" einen Bestseller. Jetzt sind auch ihre zeitkritischen Erinnerungen erschienen.

Von Wilfried Mommert, dpa 13.11.2018, 13:19

Berlin (dpa) - "Wo waren Millionenwerte an gestohlenen Bildern, Schmuck, Möbeln", fragt die einst gefeierte und von den Nazis vertriebene Berliner Gerichtsreporterin und Bestsellerautorin Gabriele Tergit 1948 angesichts eines Prozesses im Berliner Kriminalgericht Moabit gegen kleine Gauner.

"Ein goldener Ring mit einem Halbedelstein. Lächerlich!" Die Nutznießer des großen Kunstraubes der Nazis standen nicht vor Gericht. Daran erinnert sich Tergit in ihren erst 1983 nach ihrem Tod erschienenen (und damals gekürzten) Memoiren, die jetzt in einer von Nicole Henneberg hervorragend edierten und kommentierten Neuausgabe erschienen sind.

Zusammen mit Vicki Baum ("Menschen im Hotel"), Irmgard Keun ("Das kunstseidene Mädchen") oder Marieluise Fleißer ("Fegefeuer in Ingolstadt") gehörte Tergit, die mit bürgerlichem Namen Elise Hirschmann hieß, zu den prominenten weiblichen Protagonisten der so genannten "Neuen Sachlichkeit" in der Literatur der Weimarer Republik. Zu deren männliche Kollegen gehörten unter anderem Hans Fallada mit "Kleiner Mann - was nun?" und Erich Kästner mit "Fabian". Die Berliner Fabrikantentochter (Kabelwerke Friedrichshain) trat vor allem auch als Journalistin und erste deutsche Gerichtsreporterin im seinerzeit legendären "Berliner Tageblatt" mit dem Chefredakteur Theodor Wolff hervor. Eigentlich hieß es damals eher, "ein junges Mädchen aus guter Familie hat nicht in Zeitungen zu schreiben".

Weil es beim berühmten Verlagshaus Mosse im Zeitungsviertel an der Kreuzberger Kochstraße keine richtige Kantine gegeben habe, hätten sich die Journalisten zum Mittagsstammtisch im "Capri" außerhalb getroffen und dort bei Chianti und Grappa die Weltlage und literarische Vorhaben leidenschaftlich diskutiert, wie sich Tergit erinnerte. Oder die Berliner Gerichtsprozesse wurden diskutiert wie die gegen Protagonisten der erstarkenden Nationalsozialisten wie Hitler und Goebbels (wo der Oberstaatsanwalt selbst schon NSDAP-Mitglied war) und die Richter nicht selten Sympathien zeigten. Hier lag für Tergit auch schon ein Teil der Antwort auf die später immer wieder gestellte Frage: "Wie konnte es einer kleinen, gewalttätigen Gruppe gelingen, vor den Augen der Deutschen und der ganzen Welt eine Demokratie zu zerstören?"

Aber auch ein anderer Verdacht wurde damals diskutiert: "Der deutsche Arbeiter wird auf den ersten hereinfallen, der sagt: "Unsere deutsche Heimaterde"" nach dem satirischen Motto, wie damals in Tergits Kreisen gewitzelt wurde: "Deutsche! Esst deutsche Bananen!" Wie sich zeigen sollte, war das allerdings nichts nur auf die Arbeiterschicht begrenzt, was Thomas Mann später ebenso beklagen wie auch selbstkritisch analysieren sollte ("Bruder Hitler").

Umso erbitterter registrierte Tergit nach Kriegsende Äußerungen von Berlinern über die russischen Besatzer wie "Da fehlt die Zivilisation" - und das nach den Massenmorden des NS-Regimes, auch im Namen der Deutschen. Und Haltungen sogar von Ärzten, die einer verletzten jüdischen Berlinerin ihre Hilfe verweigern mit den Worten an die helfen wollende Bekannte: "Ne Judensau wollen Sie helfen?!". Soviel zur beliebten Behauptung in weiten Kreisen der "normalen Bevölkerung" in der Nachkriegszeit, "davon haben wir nichts gewusst".

Interessant sind Tergits Erinnerungen aber auch durch ihre immer noch lebendigen Erinnerungsbilder über den Alltag und die Arbeitswelt in der Weimarer Republik und im Nachkriegsberlin. Da sind die Schilderungen aus der Verlagswelt mit der alten "schwarzen Kunst" der Drucker und Setzer, wie sie auch im "Käsebier"-Roman eindrucksvoll aufleben. Oder die Erinnerungen an den alten Verleger Ernst Rowohlt ("Alle Schriftsteller, die er liebte, waren Trinker, Verbrecher oder Selbstmörder"), dem Tergit eine "merkwürdige Abwesenheit von politischem Sinn" bescheinigte, für sie einfach "erschreckend bei einem so genialen Mann".

Der 1931 bei Rowohlt erschienene Roman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" war, wie im Nachwort der jetzigen Neuausgabe betont wird, gesellschaftspolitisch von brennender Aktualität. Da bricht ein Bankhaus zusammen, Handwerker werden ruiniert und anspruchsvolle Zeitungen geraten wegen des schnellen Profits in Bedrängnis. "Geist? Wer will Geist?" fragt der Medienmanager neuen Typs. "Tempo, Schlagzeile, Sensation, das wollen die Leute. Amüsement. Jeden Tag eine andere Sensation, groß aufgemacht." Es ist die Zeit vom "Berliner Babylon", Ende der 20er Jahre, auch mit dem Berliner Amüsierbetrieb, den Varietés und Ausflugslokalen.

Tergit war in der Nachkriegszeit über 25 Jahre in Deutschland vergessen, bevor sie 1975 mit einem Radiofeature von Frank Grützbach, der den "Käsebier"-Roman zufällig in einem Antiquariat aufgestöbert hatte, wiederentdeckt und 1977 bei den Berliner Festwochen geehrt wurde. Es war ihre letzte große Reise in jene Stadt, der lebenslang ihre große Liebe galt. "Hab' den Namen nie gehört. Wer sind Sie überhaupt?", meinte ein Berliner Kulturdezernent in der berühmt-berüchtigten Berliner Amtssprache zu der zurückgekehrten Emigrantin, die sich davon nicht abschrecken ließ, da hatte sie schon ganz andere Sachen erlebt.

Die jetzige Neuausgabe des Romans und der Memoiren machen neugierig auf den noch immer ungedruckten umfangreichen Roman "So war's eben" (mit dem ursprünglichen Titel "Die Vertriebenen"), laut Nicole Henneberg ein Gesellschaftspanorama von 1898 bis in die New Yorker Emigration in den 60er Jahren mit dem zentralen Motto über "das richtige Leben im Falschen". Tergits endgültige Exilstadt war London, wo sie 1982 im Alter von 88 Jahren starb.

- Gabriele Tergit: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Neu herausgegeben und ediert mit einem Nachwort von Nicole Henneberg, Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt am Main, 424 Seiten, 26,00 Euro, ISBN 978-3-89561-492-7.

- Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman, Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt am Main, 395 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-89561-484-2.

Etwas Seltenes überhaupt

Käsebier erobert den Kurfürstendamm