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Roman als Spätwerk Günter de Bruyn und "Der neunzigste Geburtstag"

Wie lebt es sich als älterer Mensch in der ostdeutschen Provinz? Wie fühlt es sich an, durch einen unsichtbaren Graben von der mittleren oder gar jungen Generation getrennt zu sein? Günter de Bruyn erzählt davon - meisterhaft.

Von Bettina Greve, dpa 23.10.2018, 16:55

Berlin (dpa) - Zunächst hatte Hedy Leydenfrost nicht vor, ihren anstehenden runden Geburtstag zu feiern. Doch als ihre Familie die Idee hat, zum Ehrentag der noch 89-Jährigen einen Förderverein für Flüchtlingskinder zu gründen und für diesen um Spenden zu bitten, ist sie am Ende einverstanden.

Die hochbetagte Dame war früher politisch aktiv, als sie noch im Westen lebte, eine unerschrockene Kämpferin der APO. Die Vorstellung, aktiv an der von Kanzlerin Merkel propagierten "Willkommenskultur" mitzuwirken, lässt sie nun wieder aufblühen. Jetzt im Alter teilt sie sich im brandenburgischen Dorf ihrer Kindheit ein ehemals stattliches Gutshaus aus Familienbesitz mit ihrem etwas jüngeren Bruder Leonhardt, genannt Leo. Dieser ist der eigentliche Protagonist im Roman "Der neunzigste Geburtstag" und Sprachrohr des Autors.

Nach jahrelanger Pause als Romancier legt Günter de Bruyn nun ein fiktionales, wenn auch offenbar autobiografisch durchwirktes Spätwerk nach. Wie sein geistiger Vater war auch Leo lange vor der Wende einmal Bibliothekar in Ost-Berlin, ein belesener und kulturgeschichtlich bewanderter Feingeist, der sich niemals mit dem SED-Regime gemein gemacht hat. Trauer um den Untergang der DDR ist ihm fremd. Der Autor legt seiner Hauptfigur Sätze in den Mund wie: "Einen ehemaligen Stasi-Häuptling liebenswert zu finden, ist wirklich zu viel verlangt."

Eine Abrechnung mit den ehemaligen Mitläufern und Wendehälsen, die nun aus der Flüchtlingskrise 2015/2016 Kapital schlagen, ist dieses Buch auch, aber nicht nur. Es geht vielmehr um den rapiden Fortschritt in jüngerer Vergangenheit und seine Auswirkungen, den rasend schnellen Gesellschafts- und Wertewandel. Da kommen manch ältere Menschen (manche jüngere auch) offenbar kaum noch mit.

Körperlich zunehmend gebrechlicher, doch geistig topfit, fühlt sich Leo zumindest abgedrängt. Er flüchtet sich in Erinnerungen und in seine Bücherwelt. Und er ärgert sich über die vielen lesescheuen jungen Leute genauso wie um die allgemeine Sprachverschandelung, die teilweise "Vergewaltigung der Muttersprache". Auf überkorrekte, gendersensible Wortunterscheidungen in eine grammatikalisch männliche oder weibliche Form, reagiert er dabei geradezu allergisch.

Günter de Bruyn zeigt, dass es auch anders geht. Ohne auch nur an einer Stelle gestrig oder gar gestelzt zu wirken, ist sein Stil wie gewohnt klar und präzise. Er versteht sich darauf, treffende Worte für innere Zustände seiner Figuren zu finden und geizt keineswegs mit Ironie. Das macht die Lektüre bei aller Tiefgründigkeit so unterhaltsam. Nebenbei ist es ihm vortrefflich gelungen, die Familiengeschichte mit dem Porträt einer Landschaft zu verweben.

Der preisgekrönte Erzähler wurde einst mit dem Roman "Buridans Esel" (1968) in der DDR bekannt, seine Bücher erschienen ab 1970 auch im Westen. Geboren 1926 in Berlin, lebt er Angaben seines Verlages zufolge heute südlich von Berlin im brandenburgischen Görsdorf (Landkreis Oder-Spree). Seinen eigenen 90. Geburtstag hat er schon hinter sich. Dieses Jahr am 1. November wird er bereits 92 Jahre alt.

- Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag, S. Fischer Verlag, 272 Seiten, 22 Euro, ISBN: 978-3103973907.

Der neunzigste Geburtstag