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Nicht nur aus Bochum Jurek Beckers bunte Welt der Postkarten

Jurek Becker lebt. In seinen Romanen, aber auch in seinen Postkarten. Von denen hat er so viele geschrieben wie kaum jemand sonst. Und auch diese Kleintexte sind auf ihre Weise eindrucksvolle Kunstwerke.

Von Andreas Heimann, dpa 26.06.2018, 11:55

Berlin (dpa) - Wenn Jurek Becker noch leben würde, schriebe er regelmäßig kleine Kunstwerke per SMS oder WhatsApp. Aber der Autor so großer Bücher wie "Jakob der Lügner" (1969) und "Irreführung der Behörden" (1973) ist seit mehr als 21 Jahren tot.

Als er noch lebte, gab es keine Smartphones. Wer anderen schriftlich kurz etwas mitteilen wollte, schrieb eine Postkarte. Jurek Becker hat das Tausende Male gemacht, rund 950 seiner Karten sind überliefert. Eine Auswahl davon ist nun bei Suhrkamp unter dem Titel "Am Strand von Bochum ist allerhand los" als Buch erschienen.

Es ist mit fast 400 Seiten nicht nur ein ziemlich dickes Werk geworden, sondern auch ein ganz besonderes. Jurek Becker, 1937 als Kind einer jüdischen Familie in Lodz geboren, überlebte das Ghetto dort und mehrere Konzentrationslager. Er wuchs in Ost-Berlin auf, verließ die DDR aber 1977 - mit einem zunächst auf zwei Jahre befristeten Visum. Einer seiner besten Kumpel war der Schauspieler Manfred Krug. Nach dem Umzug nach West-Berlin schrieb er für ihn die Drehbücher für die erfolgreiche Anwaltserie "Liebling Kreuzberg", für die beide mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurden.  

Dass Becker ein umgewöhnlich produktiver Schreiber ungewöhnlich intelligenter Postkarten war, ist nichts Neues: Manfred Krug hat schon 1997 eine Auswahl von Beckers Karten an ihn und seine Frau veröffentlicht. Und 2004 erschien "Lieber Johnny. Postkarten an seinen Sohn Jonathan". Aber das neue Buch toppt das bei weitem. Es ist eine faszinierende Sammlung kleiner Texte, die fast ohne Ausnahme unterhaltsam, auf kluge Weise verspielt, oft ironisch und genauso oft ausgesprochen liebevoll sind, nicht nur, wenn seine Frau Christiane Becker die Adressatin ist, die das Buch herausgegeben hat.

Becker schreibt einem kleinen Kreis guter Freunde und enger Verwandter, mal aus den USA, mal aus Schweden, Neuseeland, Indien, Wales, Peru, von den Jungferninseln oder aus der deutschen Provinz. Es sind nie stereotype Urlaubsnachrichten nach dem Schema "Hier scheint die Sonne, mir geht es gut, wie geht es euch?" Becker erhebt die Postkarte zur Kunstform, oft schreibt er den Text vor, in die Hefte, die er auch für literarische Notizen nutzt. Und er wählt die Kartenmotive sorgfältig aus, bevorzugt solche, mit denen er in seinen Texten kreativ spielen kann.

An Christine, mit der er seit 1986 verheiratet ist, schreibt er so oft wie an niemand anderen: "Du alter Vorderschinken" beginnen solche Texte, "Du alte Hörbrille" oder "Du alte Fusselbürste". Es gibt kaum eine Anrede, auf die Becker noch nicht gekommen wäre. Und dann erzählt er oft anekdotenhaft gerade Erlebtes wie bei einem Besuch in Kiel: "Überall hängen Plakate - Becker liest in der Kunsthalle -, und quer über jedem ein roter Aufkleber: Ausverkauft. Macht sich wirklich hübsch."

Der erste Kartentext ist aus dem Jahr 1978. Becker meldet sich aus den USA von den Niagara-Fällen mit einigen Zeilen an Manfred Krug und dessen Frau Ottilie. Die letzte ist an Christine von Ende Januar 1997. Im März darauf ist er gestorben, im Dezember 1995 hatte er von seiner Krebserkrankung erfahren.

Im letzten Kartentext schreibt er: "Der eine will wissen, warum ich mich so lange nicht melde, der nächste, ob ich Lust auf Nudelsuppe habe, der dritte, wie es mir denn so geht. Oh sancta simplicitas!" Es ist ein typischer Tonfall: Auch wenn es ernst wird, klagt er nicht ohne einen Hauch von Komik. Auch das macht das Buch eindrucksvoll.

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