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Der Wille des Volkes Lewinsky-Krimi: Ein alter Sack in einer neuen Schweiz

Vor allem das Ende ist beklemmend. Wer möchte, dass das Gute siegt, ist falsch im neuen Kriminalroman von Charles Lewinsky.

Von Christiane Oelrich, dpa 02.10.2017, 23:01

Zürich (dpa) - Schrecklich, der allwissende Überwachungsstaat. Furchtbar, wie aus dem kleinen Markus ein strammer Parteisoldat geworden ist, der seinen Vater festnehmen lässt und auf Seite 386 erstmals das Wort "Papa" über die Lippen bringt.

Unvorstellbar, dass in der einst zutiefst demokratischen Schweiz nun aus Parteiräson gemordet wird. Beklemmend ist vor allem dies: Der neue Kriminalroman von Charles Lewinsky spielt nicht im nächsten Jahrhundert, sondern fast im Hier und Jetzt.

Wenn da nicht die Rasiercreme wäre, die Bartstoppeln einfach verschwinden lässt. Und selbstfahrende Autos. Und eine EU, die nur noch aus Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern besteht. Und Zeitungen, die man nur noch am Bildschirm liest, "als ob man eine Frau durch so einen hygienischen Mundschutz hindurch küssen würde". Alles noch keine Realität, aber beängstigend realistisch schon.

Lewinsky beschreibt eine Zeit, in der Rechtspopulisten sich die Schweiz unter den Nagel gerissen haben. Der Machthaber heißt Wille, "Der Wille des Volkes", wie der Titel heißt.

Die Welt des pensionierten Journalisten Kurt Weilemann ist klein geworden. Keine Kollegen, keine Freunde. "Ein alter Sack war er geworden, ein altmodischer alter Sack", sinniert er selbst. Einst deckte er Skandale auf, aber so etwas sei jetzt nur noch "gefragt wie Blutwürste auf einem Vegetarierkongress".

Er ist frustriert, sauer, schimpft und meckert. "Sich ärgern war die einzige Sache, die man mit zunehmendem Alter immer besser konnte", stellt er zumindest mit Selbstironie fest. Er darf nur noch ab und zu Nachrufe schreiben, auf Leute, die eigentlich keiner mehr kennt. Bis eine mysteriöse Begegnung mit dem alter Kollegen Derendinger ihn aus seiner Früher-war-alles besser-Lethargie reißt.

Derendinger war bei dem Treffen fahrig, wirr, und Stunden später ist er tot. Weilemanns Jagdinstinkt erwacht, und wie er entdeckt, war Derendinger vor seinem als Selbstmord inszenierten Tod einem Skandal auf der Spur, der die Grundfeste der neuen Schweiz erschüttert hätte.

Weilemann fasst nach. Bei seinen Erkundungen stößt er auf eine Sexualtherapeutin, die ihn auf lüsterne Gedanken bringt, einen Schundromanautor, den der "böse Alois" - Alzheimer - heimgesucht zu haben scheint, und eine Frau, die schon zwei Gatten unter die Erde brachte und sich nun an ihn ranschmeißt. Weidemann schwirrt der Kopf.

Er ahnt die Gefahren im Überwachungsstaat, verbuddelt Beweismaterial hektisch im Wald, lockt Big Brother auf die falsche Fährte, in dem er sein Handy allein im Zug davon fahren lässt. Er trickst sich dank der Witwe Trudi ins Unauffindbare - denkt er zumindest. Aber am Ende sitzt doch die Partei am längeren Arm.

Lewinsky ist ein kreativer Schweizer Autor. Er hat viele Bücher, Hörspiele, Theaterstücke und Fernsehdrehbücher geschrieben, darunter Krimis auch fürs deutsche Fernsehen. 2006 machte er mit seinem teils autobiografischer Roman über eine jüdische Familiengeschichte ("Melnitz") von sich reden. Mit seinem Roman "Kastelau" über eine Filmcrew, die sich 1944 unter Vorwänden nach Bayern absetzt, war er 2014 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis nominiert.

"Der Wille des Volkes" ist spannend, Weilemann sympathisch. Einer, der's an der Hüfte hat, der in einem "Nächste-Station-Friedhof-Bett" schläft, wie er selbst feststellt. Einer, der beim Bergaufgehen keucht und einer schönen Frau auf den Hintern schaut: "Für manche Dinge wurde man nie zu alt". Lewinsky, Jahrgang 1946, hat das "alter Sack"-Gerede ziemlich gut drauf. Nicht nur für alte Säcke ein Lese-Vergnügen.

Charles Lewinsky: Der Wille des Volkes, Nagel & Kimche, 384 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-312-01037-0

Der Wille des Volkes