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Zum 50. Todestag Oskar Maria Grafs Blick in die bayerische Seele

Zum 50. Todestag des anarchistischen Volksschriftstellers Oskar Maria Graf ist eine Neuausgabe seiner lange vergriffenen "Minutengeschichten" erschienen. Einige Erzählungen aus dem Nachlass werden erstmals veröffentlicht.

Von Wilfried Mommert, dpa 13.06.2017, 12:32

Berlin (dpa) - Für Bismarck war der Bayer das Bindeglied "zwischen den Österreichern und den Menschen", analog zur satirischen Behauptung des Berliner Kabarettisten Wolfgang Neuss "Jeder Staat hat seinen Südstaat".

Die norddeutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kann sicher ebenfalls ein Lied von ihren Erfahrungen mit den bayerischen Nachbarn singen. Einen humorvoll-bissigen Einblick in die bayerische Seele gab schon der urbayerische, vor den Nazis in die USA geflohene Schriftsteller Oskar Maria Graf (1894-1967), der in New York demonstrativ in Lederhosen herumspazierte. Ein "verjagter Dichter, einer der besten", wie sein Exil-Kollege Bertolt Brecht meinte. Grafs Roman "Bolwieser" wurde von Rainer Werner Fassbinder verfilmt.

Anlässlich des 50. Todestages von Oskar Maria Graf am 28. Juni ist jetzt bei Ullstein eine Neuausgabe der lange vergriffenen "Minutengeschichten" erschienen, zum Teil mit erstmals publizierten Erzählungen aus dem Nachlass und einem Nachwort von Wilfried F. Schoeller. Im List Verlag liegt außerdem die von Schoeller herausgegebene Werkausgabe von Oskar Maria Graf vor. Das Literaturhaus München zeigt die Ausstellung "Oskar Maria Graf. Rebell. Weltbürger. Erzähler" (bis 5. November).

Für Schoeller ist "der parteilose Sozialist, der auf sein 'Katholischsein' wie auf einer durchtriebenen Hinterlist bestand", bis heute eine "kantige Erscheinung". Graf sei eben mehr als der Provinzschriftsteller und Spezialist für ländliche Sachen gewesen, als der er sich mit selbstironischem Behagen auf seiner Visitenkarte gerne auch titulierte. Der anachronistische Zeitgenosse, wie sich Graf auch verstand, zeigte auch politisch Flagge. So protestierte er gegen die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten ("Verbrennt mich!").

In seinem damaligen Protest von 1933 prangerte er den "barbarischen Nationalismus" an, "der mit Deutschsein nichts, aber auch rein gar nichts zu tun hat". Graf postulierte in jenen Jahren auch den wohl zeitlosen Charakterzug des Rebellen in der modernen Gesellschaft, der nicht nach dem Rezept einer politischen Überzeugung handelt, "die ihm von irgendwelchen politischen Ideologien oktroyiert worden ist", sondern einzig und allein aus einer "grundmenschlichen Empörung" und der Einsicht, "daß Unrecht und Unmenschlichkeit, niederträchtiger Massenbetrug und chauvinistische Völkerverhetzung gemeine Verbrechen asozialer Machthaber sind".

Die rund 60 jetzt versammelten und über einen Zeitraum von 45 Jahren entstandenen Miniaturen sind Streiflichter und Beobachtungen vor allem des bayerischen Dorflebens mit einem großen Herzen für die kernig-knorrigen Bewohner, aber auch Erlebnisse bei Großstadtbesuchen (einschließlich der Kulisse der neuen Heimat New York). Graf gibt einen augenzwinkernden Schnellkurs zum besseren Verständnis des eigenwilligen bayerischen Humors und der besonderen Beziehung des Bayern zum katholischen Glauben, überhaupt der bayerischen Seele ohne Bigotterie und Scheinheiligkeit, wie der Autor es formuliert.

Dem bayerisch-barocken Charakter ist laut Graf "alles Knappe, logisch scharf Umrissene" zuwider. Ihn zeichne vielmehr eine "durchtriebene Schlauheit mit dem unnachahmlichen schlichten Einfaltsgesicht, freche Schauspielerei mit protzendem Naturburschentum" aus.

Eine auf Wirkung bedachte Gescheitheit liege den Bayern nicht: "Bei uns hat man Humor." Gottgefällig sei der Bayer nicht, vom Moralischen her gesehen sei er sogar "charakterlos", wie überhaupt in das eigene Verhältnis des Bayern zum Herrgott "viel Heidnisch-Fetischhaftes dareingemengt" sei.

Graf hegte daher auch den Verdacht, dass die katholische Religion "speziell für uns Bayern erfunden worden ist". Ungeachtet dessen bleibe "unser tiefes Misstrauen gegen Religionseiferer und sonstige Fanatiker". Der Bayer erscheint bei Graf also fast als ein beispielgebender, vielleicht sogar hochaktueller Vertreter eines toleranten Miteinanders in der Gesellschaft nach dem wahrscheinlich urbayerischen Motto "Leben und leben lassen".

- Oskar Maria Graf: Minutengeschichten, Ullstein Buchverlage, Berlin, 330 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-550-08146-0.

Ullstein Buchverlage