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Psychothriller Teuflisch verwirrend: "Das Geschenk" von Sebastian Fitzek

Sebastian Fitzek gibt seinen Lesern zwei Monate vor Weihnachten einen Tipp für den Gabentisch: "Das Geschenk", so der Titel seines neuen Thrillers, hat allerdings nichts mit Frieden auf Erden zu tun, sondern eher mit dem Bösen unter der Sonne.

Von Frauke Kaberka, dpa 29.10.2019, 10:42
Annette Riedl
Annette Riedl dpa

München (dpa) - Sebastian Fitzek ist eine Art Seelenfänger. Mit Einstiegssätzen wie "Er war nackt und wurde in zwei Hälften zerteilt" spricht der deutsche Erfolgsautor einmal mehr Instinkte an, die nicht unbedingt zu den besten der Menschheit gehören: Neugier und Sensationslust, ja sogar Lust an Grausamkeit.

Und genau die füttert der 1971 geborene Berliner in seinem neuen Roman "Das Geschenk" mit Methode, denn er fährt fort: "Es fühlte sich nicht nur so an. Es geschah tatsächlich."

Nun ja, die Schilderung einer grausamen Vergewaltigung eines Häftlings im Männerknast beweist einmal mehr, dass Abscheu und ein gewisses lustvolles Interesse beim passiven Erleben miteinander verbunden sind, denn spätestens jetzt hat Fitzek seine Leser gepackt. Jedenfalls und höchstwahrscheinlich sehr viele. Und dann erzählt der Psychothriller-Spezialist eine Geschichte, die wie eine böse Variante von "1001 Nacht" aufgebaut ist: Um weiterer Quälerei durch seine Mitgefangenen zu entgehen, berichtet das Opfer in aller Ausführlichkeit und aus verschiedenen Perspektiven, wie es zu seiner Inhaftierung gekommen ist.

Milan Berg heißt der Kleinganove, der sich mit Überfällen über Wasser hält, denn als Analphabet hat er seiner Erfahrung nach kaum Aussichten auf einen halbwegs annehmbaren Job. Spätabends, wenn Angestellte in Kneipen oder anderen Etablissements nur noch über der Abrechnung sitzen, ruft Milan an, um als Polizist getarnt den oder die verbliebenen Mitarbeiter vor einem bevorstehenden Überfall zu warnen. Sie sollen das Geld widerstandslos herausrücken, damit ihnen nichts geschehe. Die Polizei sei bereits auf dem Weg und würde den Räuber schon dingfest machen. Und dann rückt er bewaffnet und mit Sturmmaske an, um abzukassieren - selbstredend ohne Polizei.

Das Geschäft läuft nicht schlecht, bis... ja, bis Milan an eine junge Kellnerin in einem Diner gerät, die seine Masche durchschaut und ihn mit einem Baseballschläger empfängt. Hier beginnt die Geschichte von Milan und Andra. Zwei Jahre lang sind die beiden bereits zusammen, und Andra hat anscheinend keine Ahnung, dass ihr Geliebter weder lesen noch schreiben kann. Milan ist ein Meister der Täuschung. Immer kann er sich herausreden, vor Herausforderungen fliehen oder davon ablenken. Dann aber kommt ein alter Mann ins Diner, in dem er inzwischen selbst einen Job bekommen hat, und überreicht dem verblüfften Milan ein Pillen-Kästchen. "Wenn Sie diese Tabletten nehmen, Herr Berg, werden Sie eines Tages vielleicht wieder lesen können."

Diese Begegnung wird genauso wie der flüchtige Blickkontakt mit einem verängstigten Mädchen in einem Auto zu einem Schlüsselerlebnis für Milan. Den alten Mann und die Pillen tut er zunächst als Hirngespinst ab. Das Mädchen jedoch, das ein Blatt mit etwas Geschriebenem ans Fenster hält, lässt ihn nicht los. Ein Hilfeschrei, vermutet Milan, obwohl er das Geschreibsel nicht lesen kann. Doch ihm ist klar: Die Kleine ist in großer Gefahr. Und so folgt er ihr bzw. dem Auto, in dem vorn ein Mann und eine Frau sitzen. Anscheinend die Eltern.

Was dann folgt, ist der reinste Irrgarten: unzählige Spuren, die auseinanderdriften, keine führt ans Ziel. Was ist überhaupt das Ziel? Welche Rolle spielt Andra, welche Milans Vater, welche das Mädchen? Immer mehr Personen aus Gegenwart und Vergangenheit scheinen in ein perfides Spiel eingebunden zu sein. Und was hat es mit dem merkwürdigen Code auf sich, der Milan eine bestimmte Richtung weisen soll und den er schließlich mit Hilfe eines alten Buchs und Andras Hilfe entziffern kann?

Wie immer bei Fitzek werden sich auch an diesem Buch die Geister scheiden. Spannend ist es allemal. Und eingefleischte Fitzek-Fans werden angesichts der unzähligen Wendungen und Überraschungen begeistert sein. Ein Geschenk ist "Das Geschenk" aber eher nicht, sondern eine unglaubliche Mixtur aus Absurditäten und Grausamkeiten. Das macht auch die gut gemeinte Wertschätzung von 6,2 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland nicht wett. Auch nicht Fitzeks Begründung für die Abartigkeit einiger seiner psychopathischen Protagonisten anhand ausgewählter psychologischer und anthropologischer Aussagen, die er seinem "Geschenk" voranstellt. Witzig ist nur seine Danksagung, die er in eben jenen Code verpackt, der Milan so viel Mühe gemacht hat.

- Sebastian Fitzek: Das Geschenk, Droemer Verlag, München, 368 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-4262-8154-3.

Das Geschenk