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Menschliche Abgründe Tragisches Nachkriegsschicksal: Borrmanns "Grenzgänger"

Der Lebensweg einer jungen Frau in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg steht im Mittelpunkt von Mechtild Borrmanns Roman "Grenzgänger". Aus vielen Elementen entsteht ein abgerundetes Bild, hinter dem eine dramatische Frage lauert: Ist Henni eine Mörderin?

Von Axel Knönagel, dpa 23.10.2018, 14:29

Berlin (dpa) - In einem kleinen Dorf in der Eifel, nur ein paar Kilometer von der belgischen Grenze entfernt, lässt die Krimipreisträgerin Mechtild Borrmann ihren neuen Roman "Grenzgänger" beginnen.

Eine Frau bereitet sich im Jahr 1970 darauf vor, nach Aachen zu fahren, weil dort ihre Jugendfreundin Henni vor Gericht steht. Worum es in dem Prozess geht, ist erst einmal nicht klar, aber für Elsa ist es enorm wichtig, ihre Freundin moralisch zu unterstützen.

Bevor sich der Roman dem Prozess widmet, stellt Mechtild Borrmann ausführlich den Werdegang von Henriette "Henni" Schöning dar. Sie ist zwölf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg endet. Schon bald muss sie Verantwortung für die Familie übernehmen. Ihr Vater ist als nervliches Wrack aus dem Krieg zurückgekehrt und kann die Familie nicht mehr ernähren. Als dann auch noch die Mutter stirbt, sieht sich Henni auf einmal in der Rolle des Familienoberhaupts, das in großer Verantwortung steht.

Schon bald findet sich eine Möglichkeit für Henni, ihre Familie zu ernähren und die Geschwister so vor dem Kinderheim zu bewahren. In der Gegend blüht der Schmuggel mit Waren aus Belgien, und hier findet Henni ein gutes, aber auch riskantes Einkommen. Und hier geschieht dann auch die Katastrophe, die Hennis gesamtes Lebenskonstrukt zerstört. Henni muss in ein Erziehungsheim, ihre Brüder kommen in ein kirchliches Jugendheim.

Allmählich erweitert Mechthild Borrmann das Spektrum der handelnden Personen. Elsa lernt bei den Verhandlungen einen jungen Mann kennen, dem sie einige Entwicklungen darlegen kann. Und die Erzählung zeigt auch Hennis Brüder Matthias und Fried während ihrer Leidenszeit in dem von Nonnen geführten Kinderheim zu Beginn der 50er Jahre.

Noch eine weitere Person wird in die Handlung aufgenommen. Thomas lebt in Lüttich. Dorthin war er gezogen, nachdem sein bester Freund, Hennis Bruder Fried, seinen Platz im Leben gefunden hatte. Nun, im Jahr 1970, bitte ihn Fried, nach Aachen zu reisen und bei einer Anhörung auszusagen. Diese Aussicht verunsichert den sensiblen Künstler zutiefst, aber worum es dabei geht, deutet die Geschichte nur an.

Aber es ist eindeutig, dass die Vergangenheit immer noch eine starke Belastung ist. Ein wichtiger Satz im Roman wird von Elsa ausgesprochen: "Jeder legt sich die Dinge rückblickend so zurecht, dass er damit leben kann." Dass manche Aspekte der Vergangenheit so nicht beiseite geschoben werden können, liefert die Grundlage für viele Konflikte im Roman.

"Grenzgänger" springt immer wieder zwischen verschiedenen Zeiten hin und her. Während Elsa regelmäßig zu Hennis Gerichtsverhandlung fährt und sich über das Verhalten ihrer guten Freundin wundert, erzählen die anderen Kapitel, wie Henni ihre Zeit im Erziehungsheim übersteht und allmählich den Weg in ein glückliches Familienleben findet.

Und doch muss etwas schiefgegangen sein, denn in dem Prozess, den Elsa besucht, ist Henni angeklagt, ihren eigenen Vater umgebracht zu haben. Nur Elsa scheint an ihre Unschuld zu glauben. Henni selbst sagt nichts. Borrmann führt in der Erzählung sehr geschickt die verschiedenen Erzählstränge zu einem komplexen Ganzen zusammen. Dabei sorgen klassische Krimi-Elemente für Spannung, aber seine wahre Wucht gewinnt der Roman durch die menschlichen Abgründe und die Reaktionen darauf, die im Mittelpunkt von "Grenzgänger" stehen.

- Mechtild Borrmann: Grenzgänger. Droemer Verlag, München, 284 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-426-28179-6.

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