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250. Geburtstag Friedrich Hölderlin: Radikal, genial, geisteskrank

Friedrich Hölderlin gilt als Sprachkünstler von Weltrang - aber auch als eine der ominösesten Figuren der Literaturgeschichte. Nun jährt sich der Geburtstag des Dichters zum 250. Mal.

Von Kathrin Löffler, dpa 19.03.2020, 16:29
Marijan Murat
Marijan Murat dpa

Tübingen (dpa) - In Tübingen war man sich ob des Geisteszustands eines früheren Einwohners gewiss. "Der Hölderlin isch et verrückt gwä", stand jahrzehntelang als Graffito an einem Turm an der Neckarfront der schwäbischen Stadt.

Ärzte hatten das zu Lebzeiten des Dichters anders gesehen. Sie diagnostizierten Friedrich Hölderlin (1770 - 1843) unheilbare Raserei. Er verbrachte daraufhin sein halbes Leben in Pflege in eben jenem Tübinger Turm. Nicht nur sein Werk, sondern auch diese Biografie prägte das Faszinosum Hölderlin; bei kaum einem Poeten lässt sich die Floskel von Genie und Wahnsinn so leicht bemühen. Am 20. März jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal.

Während Hölderlin sich epochal kaum einsortieren und weder Klassik noch Romantik eindeutig zuordnen lässt, herrscht über seinen Stellenwert in der Literaturgeschichte weitgehend Konsens: Er gilt als einer der größten Lyriker der Weltliteratur, als Superlativ der Dichtkunst. Seine Texte wurden in 83 Sprachen übersetzt. Laut Johann Kreuzer, Präsident der Hölderlin-Gesellschaft, sind sie zur Gestaltung von Hochzeiten in China besonders beliebt.

Sein heutiges Renommee verdankt er einem fast schon verwegenen Umgang mit rhetorischen Konventionen. Er jonglierte mit Versformen, schuf neue Wörter. "Hölderlin war ein großer Meister der Sprache", sagt Thomas Schmidt, der am Deutschen Literaturarchiv Marbach die Veranstaltungsreihe "Hölderlin2020" koordiniert. "Er hat sie viel radikaler als andere strapaziert."

Hölderlin kam im württembergischen Lauffen am Neckar zur Welt, verbrachte seine Kindheit rund 80 Kilometer flussaufwärts in Nürtingen, absolvierte eine klassisch-schwäbische Bildungslaufbahn: Dem Besuch von Klosterschulen folgte das Theologiestudium am Evangelischen Stift in Tübingen. Die Universitätsstadt sammelte damals jene, die das geistig-philosophische Erbe des Landes formen sollten: Mit Hegel und Schelling teilte sich Hölderlin ein Zimmer.

Sein Fach war ihm zuwider, Pfarrer werden wollte er nie, lediglich mütterlicher Druck trieb ihn zum Studienabschluss. Hölderlin elektrisierte mehr das Nachbarland mit dem gesellschaftlichen Erdbeben der Französischen Revolution. So insistiert etwa "Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", ein progressives Textfragment unbekannter Autorschaft, das Literaturwissenschaftler unter anderem Hölderlin zuschreiben, auf "allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister".

Doch Hölderlin hoffte auf eine Revolution durch das Wort. Schmidt: "Er hat gesehen, was in Frankreich passiert ist, und dass die Vernuft nicht dadurch siegt, dass man einen Kopf nach dem anderen abschlägt."

Hölderlin war schon in jungen Jahren vom Zeitgeist fasziniert. Griechenland galt Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Maß aller Dinge in Ästhetik und Politik. Als Schüler schwärmte er neben Klopstocks Werken für jene des griechischen Dichters Pindar, als Student sog er griechische Literatur und Philosophie auf. Nach den in der Studienzeit entstandenen "Tübinger Hymnen" trieb er in seiner späteren Lyrik seine Experimente mit griechischen Versmaßen, freien Rhythmen und aufeinanderprallenden Klängen bis zum Äußersten.

Wo andere Kunstschaffende sich am antiken Griechenland abarbeiteten, war ihm daran gelegen, nicht Normen der Alten zu übernehmen. Er wollte aus der Rezeption eigene Standpunkte entwickeln. Seinen einzigen Roman, "Hyperion", ließ er im zeitgenössischen Griechenland der 1770er Jahre ein kulturelles Ideal entwickeln.

In der Dichtung fand Hölderlin Verwirklichung, seine Existenz sicherten zahlreiche Hauslehrerjobs. Probleme gab es fast bei jedem. Vor allem die Stelle in Frankfurt bescherte ihm Gram. Dort verliebte er sich in die Bankiersgemahlin Susette Gontard. Nach einer unglücklichen Affäre der beiden starb sie an Röteln.

Zu dieser Zeit sponn sich das Mysterium um Hölderlin zu. Von einem Arbeitsaufenthalt im französischen Bordeaux kehrte er Beobachtern zufolge viel zu früh, verwirrt und derangiert zurück. Der Zustand verschlimmerte sich offensichtlich. 1806 wurde der scheinbar Wahnsinnige auf Erlaubnis seiner Mutter hin in eine Tübinger Klinik zwangseingewiesen.

Die Entlassung folgte nach 231 Tagen. Die Ärzte hielten ihn für einen aussichtlosen Fall. Ob er tatsächlich krank war, ist bis heute unklar. Einer These zufolge schlug sich die Quecksilber-Behandlung in der Klinik auf Hölderlins Wesen nieder, laut einer anderen war der Dichter ein passabler Schauspieler, der sich andere Menschen mit launischem Verhalten vom Hals zu halten wusste.

Dem damaligen Usus entsprechend kam der Geisteskranke unter Obhut. Der Schreiner und Turmbesitzer Ernst Zimmer nahm Hölderlin auf, weil ihm dessen "Hyperion" so gefallen hatte. 36 Jahre lang, bis zu seinem Tod, lebte der Dichter in seinem runden Pflegedomizil über dem Tübinger Neckar. Längst ist der Turm zum ikonischen Label der Stadt und Instagram-Hotspot für Touristen geworden.

48 Gedichte sind aus den Jahren im Turm überliefert. Sie sind weniger komplex als die früheren Oden und Hymnen und galten in der Rezeption lange als poetisch minderwertig. Laut Schmidt erwecken sie den Eindruck, als habe Hölderlin im Gerüst einfacher Versmaße und Reime selbst Sicherheit gesucht.

Doch nicht nur ein rundes Geburtstagsdatum zwingt Hölderlin in die Aktualität. Als "der Güter gefährlichstes" bezeichnete er einst in seinem Gedicht "Im Walde" die Sprache. Thomas Schmidt sagt: "Ich wünsche mir, dass ein Bewusstsein dafür verstärkt wird, welche Kraft das Wort haben kann - eine wirklichkeitsverändernde, aber auch eine zerstörerische."