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Zwölf Geschichten Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste"

Das Verlorene erzählend erfahrbar machen will dieses im Wortsinn wundervolle Buch. Judith Schalansky erinnert an Ruinenmaler, Propheten, verbrannte Gemälde oder vergessene Gedichte.

Von Johannes von der Gathen, dpa 13.11.2018, 12:41

Berlin (dpa) - Was haben der Kaspische Tiger, das winzige Südseeatoll Tuanaki und der Palast der Republik in Berlin gemeinsam? Es gibt sie nicht mehr. Sie sind Geschichte. Ausgestorben, untergegangen, abgerissen. Ohne Abschiede ist unser Leben natürlich gar nicht denkbar. Aber wir können Geschichten erzählen über all die Dinge und auch Menschen, die unrettbar den Orkus heruntergerauscht sind.

"Verzeichnis einiger Verluste" nennt die 1980 in Greifswald geborene Judith Schalansky ("Der Hals der Giraffe") ihr neues Buch ganz lapidar. In zwölf kurzen, stilistisch sehr unterschiedlichen Erzählungen von jeweils exakt 16 Seiten reist die Autorin in die Vergangenheit, von der frühen Antike bis ins Manhattan des 20. Jahrhunderts, und berichtet von Guerickes Einhorn, Sapphos Liebesliedern oder den Sieben Büchern des Mani.

An den verschwundenen oder vielleicht auch nur vergessenen Dingen entzündet sich die Imagination der Autorin, die Leerstellen in der Realgeschichte dienen als Sprungbrett für ihre Fantasie. "Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden", schreibt Schalansky in ihrem Vorwort. Dort finden sich auch sehr anregende Gedanken zum Buch als immer noch idealem Speichermedium, eine "offene Zeitkapsel", in der Form und Inhalt verschmolzen sind. Die Autorin selbst arbeitet auch als Buchgestalterin, ihr Werk kommt edel daher mit zeitlos grauem Cover und schwarzen Trennblättern, in denen das Verlorene matt aufscheint.

Sehr prägnant gerät der Autorin die Schilderung des Südseeatolls Tuanaki in Form eines fiktiven Reisejournals. Mit dieser furiosen Passage knüpft Schalansky fast nahtlos an ihren Prachtband "Atlas der abgelegenen Inseln" (2009) an. Mit altrömischem Pathos und in gravitätischen Hauptsätzen kommt der Zweikampf zwischen einem Kaspischen Tiger und einem Löwen in einer antiken Arena daher. Zwischen Kleist und Kafka dagegen changiert die eindringliche Erzählung "Guerickes Einhorn", in der sich eine Frau in den Walliser Alpen fast selbst verliert.

Jede Erzählung ein neuer Tonfall: an Abwechslung mangelt es nicht, aber ein wenig forciert wirkt Schalanskys virtuoser Stilreigen mitunter dann auch. Sehr schön passt der an die US-Autorin Dorothy Parker erinnernde, schnodderige Tonfall zum Bewusstseinsstrom der völlig zurückgezogen lebenden Hollywood-Legende Greta Garbo im New York Anfang der 1950er Jahre. Schon seit elf Jahren hat die gefeierte Diva keinen Film mehr gedreht. Ihren Ruhm schleppt sie mit sich herum wie einen alten Mantel, und wenn sie Brennnesseltee einkaufen geht, ist das fast so wichtig wie die Oscarverleihung.

Wie einen buntgewebten Teppich breitet die Autorin ihr immenses Wissen in vielen Bereichen der Geisteswissenschaften und Naturgeschichte vor dem Leser aus. Manchmal ist das auch des Guten zuviel. Einige Texte wirken wie Fleißaufgaben, die mit Bravour bewältigt werden, aber anämisch bleiben.

Sehr berührend gelingt Schalansky das lakonisch erzählte Drama eines jungen Ehepaars in der DDR, und auch die autobiografisch gefärbte Kindheitsgeschichte "Das Schloss der von Behr" hallt lange nach. Darin erinnert sich die Autorin in kurzen Snapshots an Szenen aus ihrer Kindheit in dem Dorf Behrenhoff in der Nähe von Greifswald Anfang der 1980er Jahre. Ein Kind entdeckt die Welt, die für die Erwachsenen in Stagnation versinkt. Aber eine Vierjährige sieht einen Igel und spürt dem Geheimnis alles Lebendigen nach.

Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste, Suhrkamp Verlag, 252 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-518-42824-5

Judith Schalansky bei Suhrkamp