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Rückblick Jutta Voigt erinnert an die "Boheme des Ostens"

Gab es auch im ersten "Arbeiter-und-Bauern-Staat" DDR eine Boheme? Die ostdeutsche Journalistin Jutta Voigt gibt eine Antwort darauf mit ihrem Buch über die "Stierblutjahre" in der DDR, benannt nach dem in der Szene populären ungarischen Rotwein.

Von Wilfried Mommert, dpa 27.12.2016, 09:39

Berlin (dpa) - Ob Frank Castorf ein Bohemien ist, sei dahingestellt. "Sein Abschied von der Volksbühne aber ist ein später Abschied der Boheme des Ostens", meint die ostdeutsche Kulturjournalistin und Reporterin Jutta Voigt in ihrem Buch über die "Stierblut-Jahre" der DDR (so benannt nach dem in der Szene populären ungarischen Rotwein) und über die "Boheme des Ostens" (Aufbau Verlag).

Darin gibt sie weitgehend autobiografisch einen melancholisch-ironischen und vor allem liebevollen Rückblick auf jene "Lebenskünstler", "Paradiesvögel" und oft auch eher unpolitisch Unangepassten in der DDR. Voigt, langjährige Kulturjournalistin in der angesehenen DDR-Wochenzeitung "Sonntag", hat beobachtet, kennengelernt oder sogar teilweise auch begleitet.

Das gerät teilweise auch zu einer kleinen Kultur- und Sozialgeschichte eines untergegangenen Staates, wenn auch manchmal mit überhöhten Metaphern oder Plattitüden - so tanzten sie natürlich "auf den Trümmern der Ideale" und "ihre Seelen hatten Risse" und "Jede Revolution schleudert ihr Dogma in die Arena der Geschichte". Insgesamt aber ist es ein lesenswertes und aufschlussreiches Buch nicht zuletzt auch für all jene "Wessis", die im Osten überall nur Russen und Stacheldraht vermuteten und wo es angeblich nichts zu essen gab, wie einer der Gesprächspartner Voigts über "die Typen aus Westberlin" sagte, die bei ihren Besuchen in Ostberlin die östliche Boheme bestaunten.

Die Ostboheme bestand laut Voigt mehrheitlich aus Verweigerern und weniger aus Oppositionellen. "Wir hatten alle Turnschuhe an und eine große Fresse", zitiert sie den Dramatiker Lothar Trolle. Man lebte billig und musste nur einen Nachweis über eine Mindestbeschäftigung in irgendeinem Hilfsjob haben, um dem gefürchteten "Asozialenparagrafen" zu entgehen, denn offiziell durfte es ja keine Arbeitslosen in der DDR geben. "Assis" galten dem Staat neben den Künstlern und der Kirche als besonders suspekt und gefährlich. Die Bedingungen für ein Leben "am Rande" in der Boheme waren Voigt zufolge nicht schlecht in der DDR - Mieten und Krankenkasse waren niedrig (wenn auch die Versorgung damit entsprechend war), Brot und Schnaps waren billig.

Außerdem übte die Boheme-Szene eine gewisse Anziehungskraft aus. "Es gab junge Bohemiens, die sich allein deshalb für schwul erklärten, weil sie anders sein wollten als der genormte Durchschnittsbürger, lieber schwul als konform", schreibt Voigt. "Man zog sich zurück, ohne sich mit der Macht anzulegen, ein kalter Entzug." Man war "vielleicht kein Genie, aber wat Besondret", wie es der Karikaturist "OL" ("Die Mütter vom Kollwitzplatz") formuliert.

Mit Politik hatten die "Hungerkünstler", Punks und Tagträumer meist weniger am Hut, sie wollten aber auch keine "grauen Mäuse im Getriebe" sein, darin ja nicht unähnlich der aufmüpfigen Jugendszene im Westen. Sie wollten einfach nach ihren Vorstellungen leben, so unausgereift das auch gewesen sein mag. Wobei zwischen "freier" und "angestellter Boheme" unterschieden wurde, denn auch SED-Funktionärskinder oder wohlbestallte Künstler vermischten sich in der Boheme-Szene der DDR.

Die Jüngeren wollten weder was mit den "alten Schlaffis, die betrunken in den Ecken rumhängen", noch mit den Dissidenten etwas zu tun haben, erinnert sich der Lyriker Bert Papenfuß aus der Prenzlauer-Berg-Szene. Als er seine ersten Gedichte schrieb, war die Stasi zur Stelle. Der für ihn "zuständige" Kulturoffizier der Stasi war der Vater des Lyrikers Uwe Kolbe, heißt es in dem Buch. "Wir hatten nichts zu lachen", sagt die Schriftstellerin Katja Lange-Müller in dem Buch. "Wenn es Spaß gemacht hätte, hätten die Leute ja nicht reihenweise Ausreiseanträge gestellt... Ein- und Ausreise für die einen, für die anderen nicht - das war der Keil, es gab Missgunst und Neid."

Es gab auch die "Schickeria-Boheme", die sich abseits der Schönhauser Allee und den dortigen einschlägigen Kieztreffs vor allem im Prominenten-Künstlerklub "Die Möwe", im "Pressecafé" oder den Künstlerlokalen am Schiffbauerdamm mit dem Berliner Ensemble traf, alles unweit der Friedrichstraße im Zentrum Ostberlins. Das frühere Brecht-Theater am Schiffbauerdamm galt vielen lange Zeit als ein Zentrum von Geist und Boheme in der DDR, Brecht habe auch deren Lebensstil beeinflusst.

Manche Prominente übernahmen sogar zeitweise einige der dem Verfall preisgegebenen Schlösser oder Herrenhäuser in der Mark Brandenburg wie Hoppenrade bei Gransee oder auch einfache Cafés wie in Leipzig - "unten Tanten und Torten, oben Brandy und Boheme". Voigt hatte beruflich Zugang zu vielen Treffpunkten und schildert die oft turbulenten Zusammenkünfte in ihrem Buch, das in diesen Partien manchmal auch Klatschcharakter, auch aus zweiter oder dritter Hand ("...von der man sich erzählte").

Die "Möwe" in der heutigen Luisenstraße unweit des Bahnhofs Friedrichstraße schildert Voigt als "Sündenbabel der Film- und Bühnenschaffenden" mit exklusiven Speisen und Getränken und manch verbotener Lektüre. Der Staat habe hier die Künstler mit "großbürgerlichem Ambiente" umworben und alimentiert, dafür erwartete er "Dankbarkeit und Gefolgschaft".

Nicht wenige Künstler und Intellektuelle hatten auch die Mauer akzeptiert, schreibt Voigt. Sie habe auch das "revolutionäre Potenzial" der Boheme überschätzt. Später habe sie erkannt, dass die "edlen Wilden" sich "auch nur um sich selber gekümmert hatten". Man habe die Möglichkeiten gehabt, subversiv zu sein, "nur waren das viel zu wenige", zitiert die Autorin den Sohn eines Eisenwarenhändlers in der Stargarder Straße im Prenzlauer Berg, Frank Castorf.

Jutta Voigt: Stierblutjahre - Die Boheme des Ostens. Aufbau Verlag, Berlin, 272 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-351-03611-9

Stierblutjahre