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Expressionismus Nimbus des Neuanfangs: 100 Jahre "Menschheitsdämmerung"

In der jungen Weimarer Republik entsteht eine der wichtigsten Sammlungen deutscher Gedichte. Die wegweisende Lyrik der Expressionisten spielt mit der Apokalypse - und trägt Anklänge an die Gegenwart.

Von Sebastian Fischer, dpa 22.10.2019, 08:18

Berlin (dpa) - Es legt sich eine "Symphonie" über Deutschland. Ein Land, das wie ganz Europa nach dem Ersten Weltkrieg in Trümmern liegt. Als in der Weimarer Republik die erste demokratische Regierung im Deutschen Reich noch in ihren Kinderschuhen steckt, erscheint eines der bahnbrechendsten Werke der deutschsprachigen Lyrik.

Vor 100 Jahren veröffentlicht der Buchlektor Kurt Pinthus mit der Gedichtsammlung "Menschheitsdämmerung" und ihrem pathetischen Untertitel "Symphonie jüngster Dichtung" Werke von 23 Autoren, die damals zum Teil bereits zu den großen Namen der deutschen Gegenwartslyrik gehören - darunter Georg Trakl, Franz Werfel, Georg Heym, Gottfried Benn und (als einzige Frau) Else Lasker-Schüler.

"Für die Zeit des Expressionismus von 1910 bis 1920 ist das eine zentrale Dokumentation", sagt der Marburger Literaturprofessor Thomas Anz der Deutschen Presse-Agentur. Mit dem Erscheinen bildet "Menschheitsdämmerung" Höhe- und zugleich Schlusspunkt des expressionistischen Jahrzehnts.

Zum Jubiläum ist das Werk jetzt neu aufgelegt worden. Ein Jahrhundert nach der Erstausgabe von 1920, die nach Recherchen des Rowohlt-Verlags teilweise auf 1919 zurückdatiert wurde, folgten bis 1922 noch drei weitere. Insgesamt wurden innerhalb von zwei Jahren 20.000 Exemplare aufgelegt.

Im Vorwort, das Pinthus im Herbst 1919 verfasst hat, schreibt er über seinen Ansatz: Er wolle nicht "nach der Mode biederer Großväterzeit" die "Perlen der Dichtung zum Kranz" flechten. Vielmehr sei sein Buch eine "Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften". Die Gedichte ordnet er nicht etwa chronologisch oder alphabetisch, sondern als Komposition - eben als eine "Symphonie".

Der Titel der Sammlung ist doppeldeutig: "Dämmerung" ist zu lesen als Untergang der Abendsonne, aber auch als Beginn eines frischen Tages. "Dieses Spiel mit apokalyptischen Fantasien von Untergang und Neuanfang ist für diese Anthologie ganz entscheidend", sagt Anz.

Als erstes gibt mit "Weltende" von Jakob van Hoddis das berühmteste Gedicht des Expressionismus den Ton vor: "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei. / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei, / Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut."

Das Gedicht erschien ursprünglich schon rund ein Jahrzehnt zuvor - also noch vor dem Ersten Weltkrieg. "Bei Jakob von Hoddis ist eine gewisse Freude dabei, dass eine Welt untergeht, nämlich die des Bürgertums", sagt Anz. "Das ist eine Art revolutionärer Neuanfang." Darin sieht der Literaturwissenschaftler eine Verbindung zur Gegenwart: "Solche apokalyptischen Fantasien kennen wir heute wieder im Zusammenhang mit der Klimadebatte."

Expressionisten verstanden ihre Arbeit als Gesamtkunstwerk, in dem alle Künste kombiniert waren. Unter den Dichtern waren viele jüdische Autoren. Im Nationalsozialismus wurden ihre Werke als "Entartete Kunst" diffamiert. Viele gingen ins Exil, so auch Cheflektor Pinthus. Nach seiner Rückkehr aus den USA in die Bundesrepublik 1967 arbeitete er im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

Im Nachwort der jüngsten Ausgabe der "Menschheitsdämmerung" betont Rowohlt-Chefverleger Florian Illies ("Generation Golf", "1913"), dieses "erste Generationenbuch des 20. Jahrhunderts" beschwöre "den Rausch, die Empörung und Exaltation der Vorkriegsjahre als konstitutive Grundlage der Gegenwart - gegen die Dominanz der traumatischen Erfahrungen des Krieges".

Doch war das von den Dichtern erhoffte Paradies nicht eingetreten. "Mit dem Scheitern der Revolution brach der utopische Elan des Expressionismus in sich zusammen", schreibt Anz in einem seiner Aufsätze. Doch sei der revolutionäre Aktivismus einher gegangen mit einer ästhetischen Revolution. Und beides wirkt bis heute nach.

Kurt Pinthus, Menschheitsdämmerung, erweiterte Neuausgabe, Rowohlt, 400 S., 28,00 Euro, ISBN: 978-3-498-00138-4

Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung