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Eindringlich Thorsten Nagelschmidts Berlin-Panorama "Arbeit"

Ein Kaleidoskop von Nachtgestalten: Thorsten Nagelschmidt erzählt von denen, die den Unterhaltungsbetrieb Berlin am Laufen halten. Ein bewegender Roman, der seine Figuren ernst nimmt.

Von Johannes von der Gathen, dpa 11.08.2020, 10:44

Berlin (dpa) - Ein ganz normaler Freitagabend in Berlin, damals in Vor-Corona-Zeiten. Langsam füllen sich die Kneipen, Scharen von feierwütigen Touristen bevölkern die Straßen im Szenekiez Kreuzberg.

In den Hostels ist die Hölle los, und der Taxifahrer Heinz-Georg Bederitzky beginnt seine Nachtschicht, von der er noch nicht weiß, dass sie ihn an den Rand der Verzweiflung bringen wird.

So beginnt Thorsten Nagelschmidts facettenreicher, mitunter sozialdokumentarischer Berlinroman "Arbeit". Der 1976 im westfälischen Rheine geborene Autor und Sänger der Indiepopband Muff Potter entwirft ein pralles Kaleidoskop des hauptstädtischen Nachtlebens, aber aus der Perspektive derjenigen, die diesen weltweit bewunderten Unterhaltungsbetrieb am Laufen halten: Türsteher, Hostelangestellte, Rettungssanitäter und Polizisten, Kioskbetreiber und Drogendealer. Der Fokus wechselt mit jedem Kapitel, aber eines bleibt: Der Glamour ist woanders.

Wir lernen Marcela kennen, die Studentin aus Kolumbien, die bei einem Lieferdienst jobbt und sich mit ihrem klobigen Thermorucksack auf dem Fahrrad mühsam einen Weg durch das Verkehrschaos bahnt. Oder Felix, der Drogendealer, ein nicht unsympathischer Typ, der permanent an Zahnschmerzen leidet und für viele seiner langjährigen Kunden auch Freund und Sozialarbeiter zugleich ist.

Die Abstürze ereignen sich in diesem mit viel Empathie verfassten Roman fast zwangsläufig, die Nacht bringt das Elend an den Tag. Dafür sind dann die Rettungssanitäter Tanja und Tarek zuständig. Dabei träumt die hellwache Tanja beim Dauerstress im Notfallmodus von einem Medizinstudium, und übersieht völlig, dass ihr Kollege Tarek schwer in sie verknallt ist.

Nagelschmidt bringt uns diese traurigen Nachtgestalten sehr nah, aber manchmal schlägt er mit seinem dokumentarischen Eifer etwas über die Stränge: Wir müssen nicht die Namen von sämtlichen Pillen und Schmerzmitteln kennen, um zu begreifen, dass der Drogenmaniac Felix ein ganz einsamer Hund ist. Aber es gibt auch ganz starke Kapitel, vielleicht weil sie näher an der Lebenswirklichkeit des Autors angesiedelt sind.

Da ist Ingrid, nicht mehr ganz jung, ihr Mann ist vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Jetzt sitzt sie allein in dem ehemals gemeinsamen Kreuzberger Antiquariat. Die Geschäfte gehen schlecht, Bücher sind eigentlich kein Thema mehr, und manchmal rät Ingrid sogar vom Kauf ab. Da bekommt dann der Popliterat Rainald Goetz sein Fett weg, und im gleichen Kapitel erweist Nagelschmidt dem Asphaltlyriker Rolf Dieter Brinkmann seine Reverenz. Aber Ingrid kann von den alten Büchern heutzutage nicht mehr leben und zieht nachts als Flaschensammlerin durch die Straßen und Parks.

Das ist eine eindringliche Figur, die in Erinnerung bleibt, genauso wie der Taxifahrer Bederitzky, der zwischen den Kapiteln immer wieder um die Ecke kurvt. Er stammt aus dem Osten, Halle an der Saale, und hat sich nach der Wende mühsam berappelt. Er ist auch Hobbymusiker, manchmal legt er im Taxi einen Song von sich auf und ist gespannt, ob der Fahrgast eine Reaktion zeigt. Aber diese Nacht bringt ihm kein Glück, auch wenn die lange Fahrt zurück in seine Heimatstadt auf den ersten Blick wie ein Sechser im Lotto aussah. "Einmal falsch abgebogen, und das Leben stellt dir für immer ein Bein", heißt es ganz lapidar. So ein Satz hätte auch vom früh verstorbenen Jörg Fauser stammen können, einem weiteren Vorbild für diesen lesenswerten Trip durch die Berliner Nacht.

Thorsten Nagelschmidt: Arbeit, S. Fischer Verlag, 334 Seiten 22,00 Euro, ISBN 978-3-10-397411-9

© dpa-infocom, dpa:200811-99-122469/3

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