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"Goodbye, Sir Simon" Rattle hört bei Berliner Philharmonikern auf

Sir Simon Rattle verabschiedet sich von den Berliner Philharmonikern. Mit ihm wurde das Orchester fit für das 21. Jahrhundert.

Von Esteban Engel, dpa 18.06.2018, 12:16

Berlin (dpa) - Die Locken hat er gezähmt, sein Haar ist weiß geworden: Wenn Simon Rattle an diesem Mittwoch (20. Juni) nach 16 Jahren sein letztes Konzert als Chefdirigent in der Berliner Philharmonie dirigiert, schließt sich für den Briten ein Kreis.

Bei seinem ersten Gastauftritt hatte der Sonnyboy aus Liverpool 1987 Gustav Mahlers 6. Sinfonie dirigiert - genau wie jetzt zum Abschied.

Rattle wechselt zum London Symphony Orchestra, das er im Wechsel mit Berlin seit einem Jahr leitet. Der Dirigent steht mit 63 Jahren auf der Höhe seiner Laufbahn. Sein Vorgänger Claudio Abbado hatte das Orchester körperlich gezeichnet als kranker Mann verlassen, Herbert von Karajan war zuvor im Streit gegangen. Seit Wochen bereiten die Philharmoniker den Abschied vor, das letze Philharmonie-Konzert wird live in mehr als 200 deutsche und europäische Kinos übertragen. Am Sonntag (24. Juni) ist mit dem Waldbühnen-Konzert dann ganz Schluss.

"Goodbye, Sir Simon", betitelt das Philharmonie-Magazin "128" seine jüngste Ausgabe. Ganz vergessen sind die Anlaufschwierigkeiten nach seinem Antritt 2002 nicht. "Dieses Orchester macht sich das Leben wirklich nicht leicht. Aber wenn man am Ziel ist und die Blasen an den Füßen verheilt sind, dann weiß man, dass es die Sache wert war", sagt Rattle im Interview des Magazins.

Geholt wurde Rattle, um die Philharmoniker ins 21. Jahrhundert zu führen. In Birmingham hatte der junge Dirigent das städtische Orchester zu einem zeitgemäßen Vorzeigeensemble reformiert. In Berlin sollte der coole Brite nach dem Orchester-Herrscher Karajan und dem Bewahrer Abbado den Philharmonikern eine Verjüngungskur verpassen. Neben einem erweiterten Repertoire jenseits von Beethoven und Bruckner sollte sich das Orchester der Gesellschaft öffnen

Das ist den Philharmonikern und ihrem Chef gelungen. Ob Filme in 3D, Live-Übertragungen in Kinos, die Digital Concert Hall als Internet-Stream und ein wegweisendes Bildungsprogramm - mit Rattle waren sie plötzlich auf allen Kanälen. Der Dirigent führte junge britische Komponisten wie Mark-Anthony Turnage und Thomas Ades oder den Deutschen Helmut Lachenmann ein. Mit Regisseuren wie Peter Sellars inszenierte er Bachs Passionen als mystische Spektakel. Er verabschiedete sich von den Salzburger Osterfestspielen, einem Relikt aus der Ära Karajan, und wechselte ins mondäne Baden-Baden.

Die Neugierde des Briten schien keine Grenzen zu haben - und er zog das zunächst zögerliche Orchester mit. Von Joseph Haydn bis John Adams - Rattle durchschritt Jahrhunderte Musik mit unbändiger Energie und leichten Fußes. Kritiker warfen ihm vor, das symphonische Repertoire zu vernachlässigen, das Orchester widersprach. Rattle habe auch Wagner, Brahms und Bruckner im Gepäck. Als Zeichen des Vertrauens stimmte es 2008 einer Vertragsverlängerung vorzeitig zu.

Das Leben in Berlin veränderte auch Rattle. Er wird in Zukunft mit seiner slowakischen Frau, der Mezzosopranistin Magdalena Kožená, und seinen Kindern den Lebensmittelpunkt in der Stadt behalten und nach London pendeln. "Berlin war meine erste Erfahrung als Immigrant", sagte er in einem dpa-Interview. "Bis dahin hatte ich immer in meiner eigenen Kultur und Sprache gelebt."

Deswegen reagierte Rattle auch allergisch auf Vorhaltungen, als Brite sei er eigentlich nicht der richtige Dirigent für den "deutschen Klang", jene dunkle Farbe, wie sie etwa Daniel Barenboim und seine Berliner Staatskapelle pflegen.

"Diese Frage, was eigentlich deutsch ist, gibt es überall, nicht nur in der Musik", sagte er. "Ich kann das am Beispiel Berlin am besten beschreiben. In dieser Stadt leben Menschen aus mehr als 200 Ländern, in unserem Orchester gibt es 26 Nationalitäten, auch wenn die Deutschen in der Mehrheit sind. Aber wie lange noch? Und was Europa oder Mitteleuropa ist - diese Frage wird doch heute völlig anders beantwortet als noch vor Jahren."

Rattles früh abzusehender Abschied setzte das Orchester vor eine schwere Probe. Erst in einem zweiten Wahlgang einigten sich die Philharmoniker auf den Russen Kirill Petrenko, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Nach dem verklärten Claudio Abbado und dem aufgeklärten Sir Simon votierten die Musiker für einen akribischen Notenarbeiter, einen Besessenen. Rattle, das kündigte er bereits an, wird auch in Zukunft die Philharmoniker dirigieren - aber als Gast, wie schon vor mehr als 30 Jahren.

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