1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Welcher Jesus passt zum Judas?

EIL

Oberammergauer Passion Welcher Jesus passt zum Judas?

Alle zehn Jahre führen die Oberammergauer ihre berühmte Passion auf. 2020 ist es wieder so weit. 1830 Einwohner wollen mitmachen. Noch ist unklar, wer von ihnen Jesus spielt oder eine andere Hauptrolle bekommt. Aber der Countdown zum Casting läuft - mit Schiller.

Von Sabine Dobel, dpa 05.07.2018, 07:22

Oberammergau (dpa) - Die Bärte sind noch nicht gewachsen, und die Haare der meisten Männer kurz. Aber die Oberammergauer, die jetzt bei "Wilhelm Tell" auf der Bühne des berühmten Passionstheaters stehen, sind innerlich schon auf ihre nächste Rolle eingestellt: Bei der Passion 2020 wollen die meisten dabei sein.

Das Schiller-Stück dient Spielleiter Christian Stückl als Casting. "Manche sind schon ganz lang in der Truppe. Manche werden hier das erste Mal an größeren Rollen ausprobiert", sagt Stückl.

Das Passionsspiel geht auf ein Gelübde aus dem Jahr 1633 zurück. Die Oberammergauer hatten damals versprochen, das Leiden und Sterben Christi alle zehn Jahre aufzuführen, um der Pest Einhalt zu gebieten - tatsächlich starb danach niemand mehr an der Seuche. Rund eine halbe Million Zuschauer zieht das Schauspiel in den Ort mit seinen rund 5000 Einwohnern, der auch für seine Herrgottschnitzer bekannt ist.

Stundenlang hat Stückl den Tell geprobt: Vorsprechen, Akzente setzen. Abends, am Wochenende, bei Badewetter. Dutzende Oberammergauer haben mit geübt, auch Habtom Tadese aus Eritrea. Er kam als Flüchtling vor drei Jahren - und bedauert, dass er bei der Passion nicht mitspielen kann. Mindestens 20 Jahre muss man dazu im Ort gelebt haben.

Rochus Rückel, als Wilhelm Tell jetzt in der Hauptrolle, wird sicher dabei sein. Welche seine persönliche Wunschrolle wäre, lässt er sich nicht entlocken. "Es macht nur Spaß, wenn es passt." Und was passt, entscheidet allein Stückl. "Er kann das."

Zum vierten Mal macht der 56-jährige Intendant des Münchner Volkstheaters die Passion. Den Sommer über wird er sich mit der Auswahl Zeit lassen. "Ich muss alle Bilder nebeneinander legen. Und überlegen: Welcher Jesus passt zum Judas? Manchmal denkt man, der eine könnte der Judas werden. Dann stellst du ihn neben den Jesus, den du ausgesucht hast - und denkst: Es sollte genau umgekehrt sein. Der eine der Jesus und der andere Judas. Ich habe einen großen Pool - und muss die richtige Kombination der Rollen finden."

Im Ort wird längst spekuliert. "Aber ich mache meine Liste nachts und allein - und wirklich allein", sagt Stückl. Am 20. Oktober wird er sie vorstellen. Nach einem Gottesdienst werden die Namen an eine Tafel geschrieben, der ganze Ort kommt zusammen. Bis dahin bleibt die Besetzung etwa so geheim wie die nächsten Nobelpreisträger.

20 Hauptrollen gibt es, neben Jesus und Judas sind das Petrus und Johannes, Kaiphas und sein Gegenspieler im Hohen Rat Nikodemus, Josef von Arimathäa, Pilatus und - klein aber doch wichtig - Herodes. Dazu kommen weniger bekannte Hauptrollen, etwa der Hohepriester Annas, meist besetzt mit einem der ältesten Laien-Schauspieler. Nur zwei große Rollen sind Frauen: Maria und Maria Magdalena.

Dabei haben sich so viele Oberammergauerinnen beworben wie nie. 1830 Einwohner wollen mitspielen, erstmals in der fast 400-jährigen Geschichte der Passion sind fast die Hälfte Frauen. Immerhin wird jede Rolle doppelt besetzt: Zwei Marias also, und zwei Mal Maria Magdalena.

Viele Chancen gebe es nicht "bei den wenigen Frauenrollen", sagt Regina Raggl, im Tell als Tochter des Schwyzer Landmanns Werner Stauffacher auf der Bühne. Für Maria ist sie mit 21 Jahren noch zu jung. Auch Eva-Maria Reiser, die Maria Magdalena aus dem Jahr 2010, macht sich nicht allzu große Hoffnungen auf eine erneute große Rolle. "Es ist einfach eine schöne Sache, dabei zu sein." Die Stewardess will unbezahlten Urlaub für die Passion nehmen, die von Mai bis Oktober dauert. Die Magdalena spielen zu dürfen, sei eine große Ehre gewesen - und eine sehr schöne Rolle -, denn sie verkünde die Auferstehung. "Es hat mir gut gefallen, dass man die Hoffnung rausträgt."

Die Passion 2020 soll ein ganz neues Erscheinungsbild bekommen. Stückl schreibt den Text jedes Mal neu. "Es fließen Erkenntnisse mit ein, die ich beim letzten Spiel gewonnen habe, und es muss auch die jeweilige Zeit und die politischen Umstände widerspiegeln."

Cengiz Görür, gebürtiger Oberammergauer mit türkischen Wurzeln, würde die Rolle als Jesus gefallen. Er brilliert nun erst einmal als Arnold von Melchtal im Tell. 2020 wäre der 18-Jährige für den Christus, der bei seinem Tod etwa 33 Jahre alt gewesen sein soll, arg jung, ebenso Rochus Rückel, der jetzt 22 Jahre alt ist. Wenn Görür sein Traumziel irgendwann erreicht, könnte er der erste Muslim als Christus werden.

Für Stückl, der sich einmal mit einem protestantischen Jesus Kritik von katholischer Seite einhandelte, spielen Religion und Herkunft keine Rolle. Görür sei Oberammergauer, und zwar einer der Talentierten - "der jetzt die Schillersche Sprache am besten beherrscht." Mit dem Oberammergauer Abdullah Karaca hat Stückl auch einen türkischstämmigen stellvertretenden Spielleiter.

Stückls ältester Jesus war 36, der jüngste 25. "Ich habe beim Jesus alles schon ausprobiert. Jetzt ist die spannende Frage: Traut man sich, nochmal einen Jüngeren zu nehmen - oder sogar einen Älteren?" Andreas Richter war vor zehn Jahren der eine Jesus, Frederik Mayet, Pressesprecher der Passion, der andere. Beide sind allerdings mit jetzt 41 und 38 Jahren wiederum hart an der Altersobergrenze.

Nicht für alle ist Christus die beste Rolle. Stückls Vater Peter, drei Mal als Kaiphas, zwei Mal als Judas und zuletzt als Annas dabei, wollte die Rolle gar nicht: "Der war früher ganz brav, der Christus", sagt der 75-Jährige. Und ohne Judas hätte schließlich die biblische Geschichte einen anderen Lauf genommen. Auch der 13-jährige Johannes, als Sohn des Tell auf der Bühne, findet den Jesus nicht sehr erstrebenswert - "weil er so lange am Kreuz hängen muss".

Passionsspiele Oberammergau 2020