1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Der Rekord-Turm im Urwald

Amazonas Der Rekord-Turm im Urwald

Deutsche Forscher wollen im Amazonas erkunden, wie sich Abholzen und Brandroden auf den Kohlenstoff-Speicher auswirken.

Von Georg Ismar 10.12.2016, 23:01

Rio de Janeiro (dpa) l Der Unterschied zwischen den deutschen und den brasilianischen Turm-Pionieren springt sofort ins Ohr. Während drei Wissenschaftler aus Mainz konzentriert und still Edelstahlrohre zur Messung von Mini-Luftpartikeln zusammenschrauben, schlurfen drei brasilianische Arbeiter heran - eine halbe Stunde zu spät und mit Musik. Hinter ihnen, mitten im Regenwald, ragt ein orange-weißes Bauwerk 325 Meter steil in den Himmel empor.

Das Amazon Tall Tower Observatory, kurz Atto, ist der weltweit bisher höchste Klima-Messturm, höher als der Eiffelturm. Der Stahl-Gigant soll mit seinen Daten helfen, dass die Menschheit die richtigen Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel ergreift.

Als einer der Arbeiter mit einem Stemmeisen an einem empfindlichen Edelstahlrohr herumbohren will, treibt das Christopher Pöhlker noch mehr Schweiß auf die Stirn, als es die Hitze ohnehin tut. Der Forscher vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz hat keine leichte Aufgabe: Er soll, rund 9000 Kilometer von der Heimat entfernt, das einmalige Projekt fertigstellen helfen.

Deutsche und Brasilianer betreiben es gemeinsam. Der Stahlturm, der weit über das grüne Dach der Amazonaswälder ragt, wurde bereits im August 2015 eröffnet. Aber erst jetzt wird er betriebsbereit gemacht. Wegen bürokratischer Hürden, Geräten, die im Zoll festhingen, und einem Regierungswechsel in Brasilien gab es Verzögerungen. Derzeit machen Meteorologen und Chemiker von zwei Max-Planck-Instituten (MPI) in Mainz und Jena Dutzende Leitungen zum Ansaugen von Treibhausgasen und Feinstaubpartikeln am Turm startklar.

Der Regenwald stabilisiert das Klima der Erde. Das ist im Groben klar. Doch wie genau dort Wald, Wolken, Winde, Niederschlag und die Miniteilchen in der Luft zusammenhängen, welche Veränderungen durch Treibhausgase entstehen, gibt Rätsel auf. Für den Klimaschutz und bessere Prognosen zur Erderwärmung müssen sie gelöst werden. Die Messgeräte sollen in verschiedenen Höhen Daten sammeln zum Wandel der Prozesse im Regenwald, zur Kohlendioxid-Konzentration in den Luftmassen. Es geht bei Atto um Millionen Daten - und darum, eine profunde Basis für die Weltklimaberichte zu liefern.

Dafür ist es so wichtig, dass der Turm fernab von menschlichen Einflüssen durch Autoverkehr und Industrie steht. Acht Millionen Euro hat das Projekt bisher gekostet - zur Hälfte vom deutschen und brasilianischen Forschungsministerium finanziert. Weil Atto so hoch ist, kann man mit ihm die Atmosphäre über eine Fläche von 700 Kilometern Länge und 550 Kilometer Breite analysieren. Für das Weltklima gilt die Amazonasregion als entscheidendes Kipp-Element.

Kürzlich ist der Pariser Weltklimavertrag in Kraft getreten. Darin verpflichten sich die Länder, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Die USA haben das Abkommen zwar ratifiziert. Doch der künftige Präsident Donald Trump bezeichnete den Klimawandel mal als eine Erfindung der Chinesen, um der US-Industrie zu schaden. Wenn er den Vertrag ausbremst, könnten weitere Staaten folgen. Schon jetzt nimmt der Regenwald in Brasilien durch Abholzungen weiter ab. 2014/2015 wurde in dem Land fast 6000 Quadratkilometer abgeholzt, das entspricht der 6,5-fachen Größe Berlins. Treiber sind die steigende Rinderzucht und der Sojaanbau.

Atto-Projektmanager Reiner Ditz aus Mainz betont, wie wichtig diese auf Jahrzehnte angelegte Forschung ist: „Fakten sind das A und O. Wir von der wissenschaftlichen Seite würden nie mit emotionalen Argumenten hantieren.“ Inwieweit die Politik am Ende zuhöre und welche Entscheidungen sie treffe, stehe auf einem anderen Blatt.

Christopher Pöhlker (33) ist in Mainz Gruppenleiter für Aerosol-Messungen. Gerade muss er die teuren Rohre mit Schlüsseln so zusammenschrauben, dass später kein Staubkorn eindringt. Am Fuß des Turms stehen drei Spezialcontainer - Stückpreis: 55 000 Euro, in denen künftig die Partikel und die über andere Leitungen angesaugten Treibhausgase analysiert werden. Jeden Tag werden dann alle Daten per Satellit nach Mainz übertragen.

In der Nähe wurde schon 2011 ein   Turm eingeweiht, der aber nur 80 Meter hoch ist. Wenn Pöhlker keine Rohre für Atto zusammenschraubt, die brasilianische Kollegen per Lastenaufzug oben anbringen, sitzt er dort in einem Laborcontainer. Er wertet die Daten des kleineren Turms aus.

Mit Atto kann man in unterschiedlichen Höhen über rund 40 Messeinheiten zuverlässig und tagtäglich Daten sammeln. Die Partikelforschung ist zum Beispiel wichtig, um die Gletscherschmelze etwa in den Anden zu verstehen. Durch die Brandrodungen im Regenwald steigt die Konzentration der Teilchen auf bis zu 2000 je Kubikzentimeter - statt rund 200. Zum Vergleich: Bei Smog in Peking können es bis zu 100 000 Partikel sein.

Lagern sich immer mehr schwarze Partikelteilchen auf den Gletschern ab, kann das Sonnenlicht nicht mehr so stark reflektiert werden und das Schmelzen nimmt zu. Pöhlker kann sogar Brände in der Sahara durch die Luftströmungen hier nachweisen. „Was beunruhigend ist, wir messen selbst hier viel mehr Verschmutzungen, sogar in der Regenzeit.“

Die verrücktesten Ideen entstehen manchmal an der Bar. Diesmal im Jahr 2005, bei einem Treffen mit Forschern des Max-Planck-Instituts Jena in Barcelona. „Mensch, wir bräuchten einen Turm, so 300 Meter hoch“, so lautete die Idee. Daraus entstand Zotto - das steht für Zotino Tall Tower Observation Facility -, ein 304 Meter hoher Messturm in Sibirien. Dort gibt es die riesigen Taiga-Waldflächen. Zudem können dort Daten gewonnen werden, wie viel Methan zum Beispiel das Auftauen von Permafrostböden freisetzt, und wie sich Kohlendioxid-Konzentrationen in Sumpfgebieten entwickeln.

Doch in Sibirien gibt es einige Restriktionen. Die Messdaten dürfen nicht täglich automatisch nach Deutschland übermittelt werden, es gibt Auflagen und Kontrollen, nicht alle Treibhausgase können gemessen werden. Es gibt anders als bei Atto keinen Online-Zugriff, was auch die Überwachung der Instrumente erschwert.

Wer sich von Christopher Pöhlker und den anderen Forschern ihre Daten und Instrumente zur Wolkenbeobachtung erklären lässt, gewinnt den Eindruck, dass es nicht gut aussieht. Im August explodierten die Partikelkonzentrationen wegen vieler Brandrodungen.

Pöhlker verfolgte im Atto-Camp am 8. November auch den US-Wahlabend. Als sich abzeichnete, dass Trump das Rennen machen würde, trank er erst mal einen Schnaps. Aber die Atto-Crew spornt der Wahlausgang eher noch an. Denn jenseits aller Debatten über Wahrheit und Lüge in der Klimafrage haben sie hier nun ein weltweit einmaliges Faktenerhebungsinstrument auf ihrer Seite, das majestätisch den Amazonas-Regenwald überragt.