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Pandemie Wie Corona die EU zerfrisst

In Europa verschärfen sich die Gegensätze

Von Steffen Honig 02.04.2020, 01:01

Da hatte Ursula von der Leyen den italienischen Premier Giuseppe Conte richtig in Rage gebracht. Die EU-Kommissionschefin sagte jüngst über den debattierten europäischen Kreditfonds: „Das Wort Corona-Bond ist ja eigentlich nur ein Schlagwort.“ Und sie fand die Vorbehalte dagegen in Deutschland berechtigt. Der wütende Italiener, der unermüdlich für die Bonds trommelt, twitterte zurück: „Die Europäische Union hat eine Verabredung mit der Geschichte, und die Geschichte wartet nicht, man muss auf ihrer Höhe sein. Die Reaktion auf den Coronavirus-Notstand muss stark, kraftvoll und kohärent sein.“

Ausgerechnet die oberste Hüterin der EU-Verträge vertiefte damit einen der entscheidenden Gräben in der Gemeinschaft: Den Konflikt zwischen der Südflanke und den Nordländern der EU. Italien, Spanien, Frankreich fordern die Anleihen, dagegen sind Deutschland, Österreich, die Niederlande und Schweden. Die am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Staaten stehen somit gegen die Länder mit der (bisher) solidesten Ökonomie. Um bei Italien zu bleiben: Es ist unklar, was von dessen Wirtschaft nach dem Ende des Corona-Desasters noch übrig ist. Es ist schon deshalb überflüssig und schädlich, mögliche Hilfen vom Tisch zu wischen.

Andere agieren schlauer: Die mit einigem Propaganda-Aufwand eingeflogene Hilfe aus Russland werden die Italiener ebenso wenig vergessen wie die Unterstützung aus China in höchster Not. Freilich zählt auch als Akt tätiger Solidarität, dass deutsche Kliniken inzwischen schwerkranke Patienten aus Italien aufgenommen haben. Noch vor Wochen war medizinische Ausrüstung für Italien an der deutschen Grenze zurückgehalten worden.

Auch ein anderer, dramatischer Gegensatz innerhalb der Gemeinschaft hat mit der EU-Führung zu tun – oder besser deren mangelnder Führungsstärke: die Auseinandersetzung mit den östlichen Mitgliedsländern und dem Rest der Union. Dass Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn bei den Grenzschließungen besonders fix waren und die EU nichts dagegen tat, hat für viel Verdruss und wirtschaftlichen Schaden gesorgt.

Der Fairness halber muss allerdings gesagt werden, dass Brüssel letztlich auch keinem Schengen-Staat verwehren kann, seine Grenzen zu schließen.

Dass die Osteuropäer sich so schnell abgeschottet haben, hat mit der Anfälligkeit der dortigen Gesundheitssysteme zu tun. Schlecht bezahlte und zu wenige Ärzte und Pfleger und schlecht ausgestattete Kliniken könnten bei offenen Grenzen rasch zu einem Kollaps führen, befürchteten die Regierungen nicht zu Unrecht.

Die miese Lage ist auch darauf zurückzuführen, dass Tausende Mediziner und Pflegekräfte eben nicht mehr in Polen oder Tschechien die Menschen heilen, sondern in Deutschland oder Österreich. Es wird sich auch in der Krise weiter bedient aus dem osteuropäischen Selbstbedienungsladen: Das Bundesland Niederösterreich holt jetzt 250 Pflegekräfte aus Rumänien und Bulgarien auf eigene Kosten ins Land.

Neben den Brüsseler Institutionen und den Nationalstaaten führt für jeweils ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft die EU. Zurzeit ist es – völlig wirkungslos – Kroatien. Ab 1. Juli übernimmt Deutschland und darf dann die Corona-Chaos-Scherben zusammenkehren. Wenn das überhaupt noch möglich sein wird.

Eine Lehre aus dem Desaster muss es sein, die EU auf ihre wesentliche Aufgabe – die Sicherung der wirtschaftlichen Prosperität für alle Mitglieder zu konzentrieren.

Wenn dieses Fundament wieder stehen sollte, müsste der Überbau auf Wirkung und Nutzen abgeklopft werden. Das Wertegerüst verkommt zur hohlen Phrase, wenn eklatante Verstöße dagegen – Beispiel das beschlossene Notstandsgesetz in Ungarn – nur mit Worthülsen bekämpft. Zudem gehört sinnloser, teurer Ballast über Bord geworfen, wie etwa der Doppelsitz des EU-Parlaments in Brüssel und Straßburg. Eine koordinierte EU-Migrationspolitik ist nicht mal mehr im Ansatz vorhanden.

Schließlich müssen noch Ab- und Zugang in der EU geregelt werden: Bis Dezember soll der fällige Handelsvertrag mit dem Aussteiger Großbritannien auf dem Tisch liegen. Dafür winkt zwei Balkanländern die Mitgliedschaft. Fast nebenbei wurden in der Vorwoche entsprechend Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien beschlossen. Im Ergebnis wird sich das Kräfteverhältnis in der EU noch ein Stück weiter in Richtung Süden bewegen.