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Prozess Vor Gericht: Sozialbetrug in 691 Fällen

Er soll Zuwanderern unberechtigt Sozialleistungen verschafft und damit Geld verdient haben. Zum Auftakt des Prozesses gegen einen 59-Jährigen in Bremen stellt die Staatsanwaltschaft Hunderte Fälle vor.

14.10.2020, 10:22

Bremen (dpa) l Nach dem massenhaften Sozialleistungsbetrug in Bremerhaven hat am Dienstag der Prozess gegen einen 59-Jährigen vor dem Landgericht Bremen begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann gemeinschaftlichen Betrug in 691 Fällen vor – im Zusammenwirken mit bulgarischen Zuwanderern. Sie geht davon aus, dass der 59-Jährige Frauen und Männern unberechtigt Sozialleistungen verschafft hat. Als Vorsitzender zweier Vereine soll er in den Jahren 2013 bis 2016 erfundene Arbeitsverträge ausgestellt und Migranten bei der Begründung von Scheinselbstständigkeiten unterstützt haben. Dem Jobcenter Bremerhaven soll durch die Taten ein Schaden von rund 6,1 Millionen Euro entstanden sein. (Az. 5 KLs 770 Js 68235/15)

Mehr als eine Stunde lang las die Staatsanwältin Fall für Fall Kerndaten von Arbeitsverträgen mit Migranten vor, die im Tatzeitraum angeblich bei der "Agentur für Beschäftigung und Integration" oder der "Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming" beschäftigt waren. Diese beiden Vereine soll der Angeklagte genutzt haben, um Zuwanderern unberechtigt Sozialleistungen und sich selbst Einnahmen zu verschaffen. Bei jedem Fall nannte die Staatsanwältin die Summen, die die Migranten vom Jobcenter ausgezahlt bekamen – manchmal waren es Hunderte, oft Tausende Euro.

Nach den Ermittlungen der Anklagebehörde war dem 59-Jährigen bewusst, dass die Zuwanderer keinen Anspruch auf finanzielle Hilfe des Jobcenters hatten. Um das Amt zu täuschen, soll er die mittellosen Frauen und Männer als Angestellte mit geringfügiger Beschäftigung ausgegeben haben. "Tatsächlich wurden gar keine Arbeitsleistungen von den Zuwanderern für die Vereine erbracht", sagte die Staatsanwältin. Die Zuwanderer haben demnach wahrheitswidrige Angaben gemacht.

Das Erstellen und Ausfüllen von Formularen und Arbeitsverträgen sowie das Anlegen von Aktenordnern ließ sich der damalige Vereinsvorsitzende laut Anklage bezahlen. Die Migranten beglichen die Gebühren demnach oft in bar. Wenn sie die geforderten Beträge zunächst nicht zahlen konnten, soll der Angeklagte dies in den Akten vermerkt haben. Für viele Leistungen der Vereine gab es der Staatsanwältin zufolge feste Preise.

Ob und wann sich der Angeklagte vor Gericht zu den Vorwürfen äußern wird, war zunächst unklar. Das Gericht hat Verhandlungstermine bis Juni 2021 festgelegt.

Mit dem massenhaften Sozialleistungsbetrug befasste sich in den Jahren 2017 und 2018 auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft in Bremen. Der Ausschuss wollte klären, wie es dazu kommen konnte. Demnach soll es sich um ein mit hoher krimineller Energie betriebenes System gehandelt haben.

Das Gremium, das über einen Zeitrahmen von mehr als einem Jahr knapp 60 Zeugen vernahm und zahlreiche Akten auswertete, bezeichnete die Zuwanderer Anfang 2018 als Täter und Opfer zugleich. Es habe sich um arme Menschen gehandelt, die meist kein Deutsch sprechen konnten und das deutsche Rechtssystem nicht verstanden.