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Trend Aus dem Leben eines Barbiers

Ein junger Berliner Barbier stutzt Bärte und verwöhnt ältere Männer. Eine Reportage über aktuelle Trends - und zeitlose Gefühle.

Von Maximilian Perseke 22.03.2018, 12:27

Berlin (dpa) l Zuerst fällt Onay auf, dass sein Cousin fremdgegangen ist. Er sieht es ihm am Vollbart an. Der glänzt nämlich. Mit Öl eingerieben, gekämmt. Sieht schick aus.

Der Cousin war beim Barbier. Aber nicht bei Onay, dem Barbier in der Familie. Der Cousin hat sich den Bart fremd ölen lassen. Sie stehen sich in einem Restaurant in Berlin gegenüber. Onay sagt, der Cousin solle doch vorbeischauen. Damit sie sich sehen. Familie. Onay schaut zur Fensterscheibe nach draußen. Die Scheibe ziert das Gesicht einer Frau. Auch sie Familie, seine Mutter.

Onay Temel seift einen Kunden ein. In seinem Barber Shop in Berlin-Schöneberg verteilt der 25-Jährige den Rasierschaum über Wangen, Kinn und Hals, so wie er es in der Türkei gelernt hat. "Die schäumen den Bart erstmal einen Monat." Nach seiner Friseur-Lehre in Deutschland ging Onay ins Ausland: nach Izmir und Istanbul. Wenn er vor dem Auge der Meister dort etwas falsch machte, gab es mit der Griffseite des Rasiermessers auf die Finger. In Deutschland geht das nicht, lacht Onay. Sein Schnurr- und Kinnbart lachen mit, die Backen flaumig.

In orientalischen Ländern gehören Barbier-Läden oft traditionell zum Straßenbild. In Deutschland sind sie seit einiger Zeit hip. Man nennt sie nun neudeutsch Barber Shops. Die Kunden sitzen bevorzugt auf Sesseln im Retro-Look, die Klingen und das Werkzeug der Barbiere liegen auf verchromten Flächen. Vieles ist auf alt gemacht, so läuft das Geschäft, sei es in Frankfurt, München, Berlin oder Hamburg. Nach Beobachtungen des Zentralverbandes des Deutschen Friseurhandwerks werden diese Läden vor allem im "urbanen Raum" eröffnet, wo es junge Kundschaft gibt.

Der Weg bis zum eigenen Barber Shop war für Onay hart. In einem anderen Job hätte der Berliner vieles einfacher haben können. 1993, ein Jahr nach seiner Geburt, eröffnete seine Familie ein Köfte-Lokal nahe dem Kottbusser Tor. Das Geschäft in Berlin-Kreuzberg läuft gut, seit zweieinhalb Dekaden.
"Ich hätte auf dem Thron sitzen können", ist sich Onay sicher. Er redet dabei weniger wie ein stolzer Laden-Boss, sondern mehr wie ein Prinz, der seinen Titel abgelegt hat. Aus freier Entscheidung. Es wäre der Köfte-Thron gewesen. Ein Thron aus Hackfleisch, Zwiebeln, Knoblauch und orientalischen Gewürzen.

In seiner Kindheit und Jugend stand Onay dauernd am Grill, und an der Seite seiner Mutter. "Mama war der Stamm unserer Familie. Sie hat am meisten Fleiß und Arbeit geleistet." Mama sagte ihrem Sohn, dass er "Köfte-Mann" werden könne. Sie ergänzte aber auch, er könne anderes machen, sich verwirklichen. Onay sagte im Lokal: "Mama, ich stinke immer." Und er entschied sich für eine Friseur-Lehre. Ein Onkel hatte mit dem Haareschneiden Erfolg gehabt. Onay stylte sich gerne. Das schien zu passen. Die Mutter unterstützte ihn, sie verstand. Der Papa erst nicht, er fand, das sei nichts für Männer.

Hätte der Papa die Männer im Barber Shop doch schon damals sehen können. Sie haben Totenköpfe in den Nacken tätowiert und Schlagringe auf die Hände. Sie sind muskulös.

Der 83-jährige Walter kommt in den Laden. Seitlich um den Kopf kurze weiße Haare, die Platte licht, Schnurrbart. Es ist das vierte Mal im Barber Shop für den Pensionär. Er setzt sich in einen Stuhl aus schwarzem Leder und Chrom. "Schön verwöhnen", sagt Onay zu Kubilay, der die Haare des Schönebergers schneiden soll, Hals, Kinn und Wangen nass rasieren. Als sein Gesicht glänzt, steht Walter auf. Onay streichelt ihm über den Rücken. Kubilay hilft dem Pensionär in seine Jacke. Ein weiterer älterer Herr kommt. Aber der will nur ein wenig reden. Die Mitmenschen möchte Onay behandeln, wie es Mama gewollt hätte. Sie habe vielen Menschen geholfen, selbst Fremden.

Mama ist vor drei Jahren gestorben, nach Krankheit, Operationen und Koma. Den Köfte-Laden führen nun Onays Brüder, der Papa kontrolliert sie dabei. Trotzdem schaut auch die Mama den jungen Männern über die Schulter, wie sie auch Onay weiter in seinen Entscheidungen beeinflusst. Das letzte Foto von ihr, aufgenommen kurz vor dem Tod, ziert groß die Frontscheibe des Lokals. Mama lächelt.

Das Foto soll immer dort bleiben. Die Gesichtskonturen der Frau, geheftet an die Scheibe. In Schwarz. Wie das Che-Guevara-Bild, das weltweit Millionen T-Shirts ziert. Dieses nennt man "Guerrillero Heroico". Diese "Mama Heroico" gibt es nur einmal, nahe dem Kottbusser Tor.

Zwei letzte Wünsche habe Mama gehabt: dass Onay selbstständig werde und seinen Meister mache. Für sie, die Frau mit dem Namen Gülderen, geboren etwas südlich von Izmir, mit drei Jahren nach Deutschland gekommen, vier Kinder in Kreuzberg aufgezogen, ein Restaurant zu lokalem Ruhm gebracht, legt sich Onay ins Zeug. Die Voraussetzungen sind nicht schlecht.

Onay zieht mit seinem Shop Kunden an. Auch auf ungewöhnliche Weise. Im Sommer hatte er Stühle vor dem Salon. Damit sich die Männer mit Bärten auch mal raussetzen können. Als er einmal raus schaute, fehlten die Sitze. Ein paar Männer – keine Kunden – hatten sie weggeschleppt und es sich darauf bequem gemacht. Mit messerscharfem Auge sah sie Onay in der Ferne. Er ging hinüber und fragte, ob er sich dazusetzen dürfe. Sie sagten: "Ja, klar." Er fragte, woher die Stühle kämen. Sie sagten: "Von da drüben." Er fragte, ob sie gefragt hätten. Sie sagten: "Nein." Dann sagte Onay: "Die Stühle gehören mir."

"Hätte ich sie böse angemacht, hätten die gleich auf Angriff gemacht", schätzt Onay. "Plus gegen Plus, das funktioniert nicht." Also ist er ruhig hingegangen. "Das habe ich von Mama gelernt." Die Männer, die sich die Stühle geborgt hatten, gaben sie nicht nur zurück. Sie sind nun Onays Kunden.
Genauso wie der Mann mit dem Totenkopf im Nacken. Serkan hat sich auf einem der Lederstühle niedergelassen. Er kommt alle zwei Wochen. "Gerade wir Südländer, wir haben einen starken Bartwuchs. Das sieht irgendwann ungepflegt aus."

Barbier sein war früher anders. Im Osmanischen Reich zogen sie auch Zähne und beschnitten Knaben. In Europa waren die Barbiere viele hundert Jahre ebenfalls für faule Zähne zuständig, sie kümmerten sich um Knochenbrüche oder machten einen Aderlass bei Patienten.

Onay konzentriert sich mit seinen Aufgaben auf die Gesichtspartien von Serkan. Für die Kanten am Bart benutzt Onay ein Rasiermesser, für den Bart selbst den Rasierapparat. Auf die oberen Wangen trägt er warmes Wachs auf und zieht es später samt Haaren und Haarwurzeln ab. Stirn und Augenbrauen bearbeitet er mit einem Faden. Kleinste Härchen fliegen durch die Luft.

Onay hat schon die Haare von Sänger Gunter Gabriel (gestorben 2017) und Rapper Bushido (39) geschnitten. Auf sein Geschick mit Klinge und Faden setzte auch Berlins berühmtester Friseur. In zweierlei Hinsicht. Nach seiner Zeit in der Türkei arbeitete Onay acht Monate bei Udo Walz. Der Chef ließ Onay sogar an sein eigenes Haar und den Bart. "Ich durfte immer nur drei Minuten schneiden", lacht Onay. "Dann ist Udo aufgestanden."

Ganz am Anfang, als er noch lernte, da schaute seine Mama oft vorbei. Mindestens einmal pro Woche föhnte Onay sie in seinem Ausbildungssalon, alle drei Wochen färbte er ihr die Haaransätze. Und nach ihrem Tod? "Keiner kann es nachvollziehen, wenn man es nicht erlebt hat." Aber die Verbindung sei stark. Neulich sah sogar ein Freund Onays Mutter in seinen Träumen. Sie gab wieder einen Ratschlag. Der Freund übermittelte ihn an Onay.