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Untersuchung Gewalt im Straßenverkehr nimmt zu

Auf Deutschlands Straßen wird gepöbelt und beschimpft. Bei den Radlern, Autofahrern und Fußgängern nehmen Aggressionen zu.

07.05.2018, 23:01

Berlin (dpa) l Küssendes Paar auf Zebrastreifen umgefahren. Mit 160 Stundenkilometern ohne Licht durch die Stadt gebrettert. Tödliche Drängelei auf der Autobahn. Ist es Zufall, dass sich Schlagzeilen über Aggression und Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr häufen? Oder gibt es mehr Rowdys auf vier Rädern, mehr Kampfradler und pöbelnde Passanten? Statistiken dazu führt in Deutschland niemand. Die Einschätzungen von Verkehrsrichtern, Psychologen und Verbänden gehen alle in eine Richtung: Ja, es ist gefährlicher geworden auf den Straßen.

Holger Randel kann da mitreden. Zwölf Jahre lang, bis zum Ruhestand 2015, war er Hamburgs Verkehrsberufungsrichter am Landgericht. „Ich kann das nicht mit Zahlen belegen“, sagt er. Aber er sehe eine Tendenz, dass die Missachtung von Regeln im Straßenverkehr zunehme - und zwar gravierend. „Ich erlebe den Straßenverkehr wie den Rest der Gesellschaft: als rücksichtsloser.“ Menschen lebten ihren Frust auch stärker über ihr Auto aus als früher.

„Die Klagen über das Verkehrsklima nehmen zu“, bestätigt Wolfgang Fastenmeier, Professor für die Psychologie des Verkehrswesens in Berlin. Untersuchungen dazu hätten immer eine subjektive Komponente, dennoch seien sie ein Indikator. Fastenmeier sieht eine Metaebene. „Wir leben in einer Zeit der moralischen Verrohung“, sagt er. „Staaten und Unternehmen sind schlechte Vorbilder. Warum sollten sich dann ausgerechnet Verkehrsteilnehmer wie moralische Saubermänner verhalten?“

Anbrüllen ist harmlos. An Kreuzungen fliegen die Fäuste. Radfahrer werden vom Drahtesel gezerrt. Radler rammen Fußgänger. Jeder gegen jeden. Auf vielen Straßen wird bedrängt und geschnitten. Den Blinker zu setzen, scheint exotisch. Viele Radfahrer ignorieren rote Ampeln, als gäbe es sie gar nicht, Fußgänger sowieso.

Illegale Rennen gelten bei manchen als sportlich, selbst wenn es Tote gibt. In Berlin ist die Stimmung so eskaliert, dass Rechtsmedizinerin Saskia Etzold die Folgen bis in die Gewaltschutzambulanz der Charité spürt. „Das geht über Rücksichtslosigkeit weit hinaus, das ist pure Gewalt. Und die Hemmschwelle sinkt“, sagt sie.

„Die Nerven liegen einfach blanker“, so beschreibt es Siegfried Brockmann, Unfallforscher für Versicherungsunternehmen. Brutale Delikte seien für ihn nicht neu. Möglicherweise steige aber gar nicht ihre Zahl, sondern sie würden mehr wahrgenommen. „Vielleicht sind die Leute einfach nicht mehr bereit, das länger so hinzunehmen.“

Es gibt Gründe für den Frust: Die Infrastruktur in Städten hält dem Verkehr kaum noch stand. Steigende Mieten drängen Menschen au s den Metropolen ins Umland - damit schwellen Pendlerströme weiter an. Online-Bestellungen befeuern den Lieferverkehr, Billig-Bus-Flotten werben der Bahn Kunden ab.

Im Januar 2018 gab das Kraftfahrt-Bundesamt den Fahrzeugbestand auf Deutschlands Straßen mit 63,7 Millionen an - rund 1,1 Millionen mehr als zum vorigen Stichtag. Dazu zählt alles vom Laster über den Kleinwagen bis zum Motorrad und Anhänger. 2017 meldete der ADAC eine Rekordzahl von 723.000 Staus. Im Durchschnitt bildete sich jeden Tag eine Blechlawine von knapp 4000 Kilometern.

Was fehlt, sind für den langjährigen Richter Holger Randel nicht die Gesetze. Es fehlt an ihrer erschöpfenden Anwendung. „Niemand will es hören, aber alle Behörden sind unterbesetzt. Das beginnt bei der Polizei, geht weiter über die Staatsanwaltschaft bis zu den Gerichten“, sagt er. Aber ist die Aggression im Verkehr typisch Deutsch? „Weil wir ein Volk der Rechthaber zu sein scheinen. So viele Rechthaber wie bei uns erlebe ich selten in der Welt“, so Richter Holger Randel.