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Verkehrswende Berlin testet autofreie Zukunft

Ein Teil der Berliner Friedrichstraße soll zwei Tage für Autos gesperrt sein. Statt Stau und Verkehrslärm gibt es Modenschauen und Musik.

28.09.2019, 13:12

Berlin (dpa) l Stinkende Kloake und Barrikadenkämpfe, ein ausschweifendes Nachtleben und schicke Restaurants, Zerstörung und Teilung durch eine Grenze, Auferstehung als Shopping- und Amüsiermeile: In ihrer mehr als 200-jährigen Geschichte hat die Berliner Friedrichstraße schon viele Auf und Abs erlebt. Nun könnte sie sich erneut ein stückweit neu erfinden.

Am kommenden Wochenende (5./6. Oktober) wird der Abschnitt zwischen Französischer Straße und Mohrenstraße nahe des Gendarmenmarkts mitten im Herzen der Hauptstadt für Autos gesperrt. Für zwei Tage sollen die Menschen erleben können, wie sich Großstadt ohne Verkehrslärm, Stau und Benzingeruch anfühlt. Stattdessen gibt es Modenschauen, Musik und Sekt im Freien.

Was sich recht banal anhört, grenzt in der Autostadt Berlin an eine Revolution. Denn das Auto ist für viele Berliner nach wie vor liebstes Kind, auch wenn sie damit in der Großstadt oft nur langsam vorankommen. Nun könnte der Test in der Friedrichstraße zur Blaupause für die Verkehrswende weg vom Auto werden, die der rot-rot-grüne Senat sei drei Jahren propagiert und schrittweise umsetzen will.

"Zurzeit ist die Friedrichstraße vor allem eines: ungemütlich, laut, nicht wirklich einladend", sagt der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte und Initiator des Projekts, Stephan von Dassel. Viele Menschen in der Stadt wünschten sich "mehr Flächengerechtigkeit", eine besser Aufenthaltsqualität und nachhaltige Mobilität.

Dazu müsse motorisierter Individualverkehr zurückgedrängt werden. "Ich bin fest davon überzeugt, dass eine Stadt mit weniger Autos besser funktioniert als mit mehr Autos", so der Grünen-Politiker. "Daher müssen wir mutiger werden, als wir bisher sind."

Von Dassel plant rund um das verkaufsoffene zweite Adventswochenende bereits die zweite autofreie Phase an der Friedrichstraße. Und im kommenden Jahr soll unter Mitwirkung der Senatsverkehrsverwaltung ein mehrwöchiger Versuch folgen, der dann wissenschaftlich begleitet wird, um die Auswirkungen etwa auf Straßen und Verkehrsflüsse im Umfeld zu untersuchen.

Die Fußgängerlobby findet das Vorhaben gut und kann sich vorstellen, es auf weitere Straßen auszudehnen. "Es ist zu hoffen, dass das die Friedrichstraße beleben wird", sagt Roland Stimpel vom Fachverband Fußverkehr in Deutschland. Mehr Flächen zum Verweilen, mehr Sitzmöglichkeiten im Freien, leichterer Zugang zu Geschäften und Restaurants – Stimpel glaubt, dass das auch deren Umsätze ankurbeln könnte.

Denn zuletzt kriselte die Einkaufsmeile, die nach der Wiedervereinigung in neuem Glanz entstand und mit schicken Edelboutiquen sowie dem Luxuskaufhaus Galeries Lafayette dem Kudamm im Westen der Stadt zeitweise den Rang ablief. Heute geben immer wieder Läden auf, die Rede ist von rund 20 Prozent Leerstandsquote.

"Wir sind sehr daran interessiert, die Attraktivität der Friedrichstraße zu erhöhen", sagt Etienne Galvani von den Galeries Lafayette dazu. "Daher sind wir für vieles offen, was zur positiven Veränderung und Entwicklung des Standortes beitragen kann." Man sei daher "gespannt", was das autofreie Wochenende, an dem Anlieger ihre Läden auch am Sonntag öffnen dürfen, am Ende bewirke.

Bringen Fußgängerzonen neben sauberer Luft mehr Umsatz? Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg, Nils Busch-Petersen, sieht darin keinen Automatismus. So gebe es in der Altstadt Spandau Probleme, ein Auf und Ab in der Wilmersdorfer Straße - beides seit Jahrzehnten große Fußgängerzonen.

Und überhaupt: "Es ist dilettantisch, auch verkehrspolitisch, wenn einem nichts anderes einfällt, als einzelne Straßenabschnitte zu sperren", findet Busch-Petersen. Anlieger seien zu wenig eingebunden. Ihm fehle ein Gesamtkonzept, die Frage sei, wo der Verkehr denn stattdessen fließen solle. "Das ist hier nicht Worpswede mit seiner Dorfstraße", schimpft Busch-Petersen. "Mitte ist ein komplexes System."

Auch aus Sicht des ADAC macht das Projekt nur Sinn, wenn es die Anlieger mitnehme und in ein Gesamtkonzept eingebettet sei. "Wichtig wäre, dass die Auswirkungen auf den Verkehr sowie die Akzeptanz bei den Verkehrsteilnehmern gründlich untersucht werden", sagt die Berliner Club-Sprecherin Sandra Hass.

Berlin steht mit dem Bemühen, Fußgängern wie auch Radfahrern mehr Raum zu geben, nicht allein in Deutschland. In Frankfurt/Main etwa wurden Autos im citynahen Teil des nördlichen Mainufers für zunächst ein Jahr ausgesperrt. München hat Mitte 2016 testweise damit begonnen, die Einkaufsmeile Sendlinger Straße autofrei zu machen. Weitere Altstadtstraßen sollen folgen. Im Hamburger Rathausviertel sind einige Straßen seit Anfang August drei Monate lang für Autos tabu, wobei es Ausnahmen etwa für Lieferverkehr gibt.