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Flüchtlingskrise Lischka: "Brauchen Verschnaufpause"

Zur Lösung der Flüchtlingskrise setzt SPD-Poltiker Burkhard Lischka auf internationale Kooperation.

Von Steffen Honig 09.10.2015, 07:18

Innenpolitik ist derzeit vor allem Flüchtlingspolitik. Die hat die Kanzlerin nun zur Chefsache gemacht. Wie bewerten Sie diese Entscheidung?
Burkhard Lischka: Wir kennen das aus der Vergangenheit, dass ein Regierungschef manche Sachen selbst in die Hand nimmt. Das bietet sich beim Flüchtlingsthema auch an, weil damit viele Ministerien beschäftigt sind. Die Kanzlerin übernimmt damit künftig die Verantwortung für alles, was gut, aber auch für alles, was schlecht läuft. Es gibt zwischen ihr und dem Thema keine Pufferzone mehr. Ich glaube persönlich, dass es die Bundeskanzlerin mit dieser Entscheidung ernst meint, die Flüchtlingsfrage in Deutschland zu lösen. Entsprechend ihrer Aussage „Wir schaffen das“ bedeutet es, dass die eigentliche Arbeit erst kommt und ab jetzt mit der Person der Bundeskanzlerin verbunden ist.
Aus der CDU/CSU werden die Rufe immer lauter, die offenen deutschen Grenzen zu schließen. Die SPD will das – wie Merkel - bislang nicht. Warum?
Deutschland hat eine Außengrenze von 3752 km. Ich habe zum Vorschlag der Union, die das sogenannte Flughafen-Verfahren auf die gesamte Landesgrenze mit abgeschlossenen Transitzonen ausweiten wollte, die Frage gestellt, wie das auf dieser Länge an einer weitestgehend grünen Grenze funktionieren soll. Ein solches Verfahren ist nur praktikabel, wenn in Deutschland wieder Mauern und Grenzanlagen errichtet werden. Solche Zäune innerhalb Europas wären eine Bankrotterklärung.
In Deutschland stellt der ungebremste Flüchtlingszustrom Länder und Kommunen vor immer größere Probleme. Ist die Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht?
Bis einschließlich September sind in diesem Jahr 577??000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die bisher regis- triert wurden. Allein im September 2015 waren es fast 170??000 Neuankömmlinge. Da stoßen wir an Grenzen, die die Realität setzt. Das betrifft die Unterkünfte, von denen viele hoffnungslos überfüllt sind. Es fällt immer schwerer, soziale Träger und geeignete Betreuer für diese Unterkünfte zu finden. Der Politik kommt daher die Aufgabe zu, die Grenzen zwischen Möglichem und Unmöglichem zu ziehen. Wir wollen helfen, aber wir müssen auch in der Lage bleiben, helfen zu können. Das wiederum bedeutet, dass wir das Tempo dieses Zustroms drosseln müssen.
Wie?
Diese Flüchtlingswanderungen, die wir erleben, können nicht mit einem Machtwort beendet werden. Nur wenn jetzt irgendein Regierungschef in Europa Stopp ruft, bedeutet das nicht, dass alle in Syrien unter dem Bombardement der Fassbomben und vor einem heranstürmenden IS stehenbleiben. Ein Treibsatz liegt auch darin, dass die Situation in den meisten Flüchtlingslagern um Syrien herum nur zu einem Drittel ausfinanziert ist – zwei Drittel der Menschen gehen dort hungrig ins Bett. Wer die Flüchtlinge unterstützen will, muss dort ansetzen. Wir werden darüber hinaus ein Europa ohne Binnengrenzen nicht aufrechterhalten können ohne einen Schutz der EU-Außengrenzen. Wir brauchen die vereinbarten Anmelde- und Registrierzentren in Griechenland und Italien, möglicherweise auch in Ungarn oder Kroatien, von wo aus die Menschen nach der Registrierung auf die 28 EU-Staaten verteilt werden, und zwar gerecht. Dazu folgender Vergleich: Tschechien hat im ersten Quartal dieses Jahres ganze 360 Flüchtlinge aufgenommen – das sind weniger, als die Stadt Magdeburg im Monat September.
Doch im Streit innerhalb der EU über die Verteilung ist keine Lösung in Sicht.
Europa muss sich die Frage stellen, ob man hier gemeinsam zu einem geordneten Verfahren kommt – Schutz der EU-Außengrenzen plus Anmeldezentren plus faire Verteilung der Schutz Suchenden. Oder ob man nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs vor 25 Jahren wieder zwischen den EU-Staaten Mauern und Stacheldraht errichten will. Dann wäre die europäische Idee am Ende.
In Deutschland bilden die Beschlüsse des Flüchtlingsgipfels die Grundlage für neue Gesetze, über die in der kommenden Woche entschieden werden soll. Was sind die Kernpunkte?
Wir brauchen schnellere Asylverfahren und müssen dahin kommen, dass in den Erstaufnahmeeinrichtungen möglichst innerhalb von drei Monaten über einen Asylantrag entschieden wird. Erst dann sollten die Menschen mit einer Bleibeperspektive auf die Landkreise und Kommunen verteilt werden, das würde diese entlasten. Wir müssen falsche Anreize abbauen, auch das ist ein Ziel des Gesetzentwurfes. Wer beispielsweise ausreisepflichtig ist und den Rückführungstermin nicht einhält, dem müssen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz entsprechend gekürzt werden. Und wir brauchen eine klare Priorität für Kriegsflüchtlinge.
Durch die Ballung von Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtungen häufen sich Auseinandersetzungen. Bei der dezentralen Unterbringung sind die Möglichkeiten begrenzt. Wie kann hier Abhilfe geschaffen werden?
Zum einen sollen die Kapazitäten in den Erstaufnahmeeinrichtungen verdreifacht werden. Die Vorfälle zeigen aber auch, dass wir in den kommenden Wochen und Monaten eine Verschnaufpause brauchen. Es gibt Einrichtungen, die für 500 bis 600 Leute ausgelegt sind und wo jetzt 2500 bis 3000 Menschen leben. Schon Kleinigkeiten, wie etwa das lange Warten auf das Essen, können zu Konflikten führen. Das ist nur eine Erklärung und soll keine Entschuldigung sein. Körperverletzung bleibt eine Straftat, die auch geahndet werden muss. Doch neue Unterkünfte zu schaffen, nimmt einige Zeit in Anspruch. So werden in Sachsen-Anhalt die Zast Halle-Trotha und die Heide-Kaserne in Stendal erst im Sommer 2016 fertiggestellt sein.
Nur kommt eine Verschnaufpause wohl nicht von selbst??…
Wichtig sind dafür die sehr konkreten Verhandlungen mit der Türkei – bei allen bekannten Vorbehalten gegen Herrn Erdogan. Die Türkei als Nachbar von Syrien und dem Irak ist Aufnahmeland für 2,2 Millionen Flüchtlinge. Wir müssen die Situation der Flüchtlinge in der Türkei verbessern – sechs neue Flüchtlingslager inklusive Schulunterricht soll es mit EU-Hilfe geben. Hinzu kommt die wirksame Kontrolle der Grenze der Türkei zu Griechenland. Wenn die Flüchtlinge erst einmal in Europa sind, werden sie sich nicht in Luft auflösen, auch wenn Einzelne irgendwelche Grenzzäune errichten.
Die eigentliche Aufgabe kommt erst noch: Die Menschen, die das Bleiberecht erhalten, in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Was sind dabei die vordringlichen Aufgaben?
Bei einer Bleibeperspektive muss es eine Integration von Anfang an, also dem Tag der Antragstellung, geben. Es muss uns gelingen, aus Flüchtlingen so schnell wie möglich Mitschüler und Arbeitskollegen zu machen. Mich haben Deutschlehrer angesprochen, die gern einen Deutschkurs geben würden. Doch dafür brauchen sie laut Verordnung eine Zusatzqualifikation. Das war bei 19??000 Flüchtlingen im Jahr 2007 vielleicht sinnvoll, ist es aber nicht mehr bei einer Million Menschen. Vorsicht ist geboten bei Schlagworten wie dem Nachzug von Familienangehörigen. Der ist und bleibt geregelt: Er bezieht sich nur auf Minderjährige und Ehegatten. Der Antrag kann nur innerhalb von drei Monaten gestellt werden, danach nur noch, wenn der Flüchtling hier seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen kann.
Es hakt nach wie vor bei schnellen Asylentscheidungen durch das Bundesamt für Migration (BAMF). Reichen die Neueinstellungen?
Alle sagen zu recht: Das ist der entscheidende Flaschenhals. Im Frühjahr wurden daher für schnellere Verfahren 2000 Neueinstellungen beim BAMF beschlossen – auf einer Basis von 450??000 Flüchtlingen. Das reicht natürlich bei den neuen Prognosen längst nicht mehr. Ich glaube, dass wir nochmals 1000 bis 2000 weitere Neueinstellungen brauchen. Klarheit werden die Haushaltsverhandlungen bringen.