Arabischer Frühling Chaos statt Freiheit

Vor fünf Jahren begannen in Tunesien die Aufstände in der arabischen Welt.

14.01.2016, 23:01

Tunis (dpa) l Gründe für eine große Gedenkfeier am gestrigen Donnerstag gab es in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid sicherlich. Vor mehr als fünf Jahren setzte sich in dem Ort ein junger Gemüsehändler aus Protest gegen seine verzweifelte Lage öffentlich selbst in Brand und entzündete in der arabischen Welt Aufstände, wie sie die Region nie gesehen hatte. Mit Zine el Abidine Ben Ali stürzte am 14. Januar 2011 der erste von mehreren arabischen Diktatoren.

Nach Feiern aber dürfte in Sidi Bouzid den wenigsten Einwohnern zumute sein. Denn hier wie in etlichen anderen Regionen nicht nur Tunesiens, sondern der arabischen Welt herrscht fünf Jahre nach Ben Alis Flucht ins Exils große Enttäuschung. Viele Menschen halten die arabischen Aufstände für gescheitert. Statt Freiheit und Demokratie brachten sie dem Nahen Osten und Nordafrika Chaos und Bürgerkriege.

Am dramatischsten ist die Lage in Syrien, Libyen und im Jemen, wo blutige Konflikte toben, deren Ende nicht abzusehen ist. In Ägypten stürzte zwar Langzeitherrscher Husni Mubarak, doch dem Militär und der politischen Elite gelang es, eine Herrschaft wiederherzustellen, die autoritärer regiert als die frühere. Im Golfstaat Bahrain kommt es bis heute regelmäßig zu Protesten gegen das Königshaus. Und als wäre all das nicht dramatisch genug, kontrollieren nun Terrorgruppen wie der Islamische Staat (IS) oder Al-Qaida große Teile der Region.

Selbst in Ländern, an denen die arabischen Aufstände weitestgehend vorbeigingen, stellt sich die Lage allenfalls auf den ersten Blick stabil dar.

Beispiel Marokko: Im Frühjahr 2011 zogen auch in dem Land ganz im Westen der arabischen Welt wütende Demonstranten auf die Straße. König Mohammed VI. ließ die Proteste mit Gewalt niederschlagen, kam der Kritik jedoch gleichzeitig entgegen. So senkte er die Lebensmittelpreise und ließ eine neue Verfassung ausarbeiten. Sie gab nicht nur der Justiz größere Unabhängigkeit, sondern stärkte auch die Rolle von Parlamentswahlen.

Seit 2011 wählt nicht mehr der Monarch den Ministerpräsidenten aus, sondern die Partei mit dem besten Wahlergebnis – ein „gekonnter Schachzug“, urteilt der Islamwissenschaftler Werner Ruf. Doch das Kernproblem hat Marokko weiter fest im Griff: die schwache wirtschaftliche Lage vor allem der jungen Generationen. Bis zu 50 Prozent aller jungen Akademiker sind laut Schätzungen arbeitslos – und ohne jede Perspektive.

Kaum besser sieht die Situation in Algerien aus, das noch heute unter den Folgen des blutigen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren leidet. Die Ökonomie des Landes hängt massiv von Öl und Gas ab, der größte Teil der Staatseinnahmen stammt aus deren Export. Jetzt machen dem Land die niedrigen Ölpreise zu schaffen, so dass die Regierung zu Sparmaßnahmen gezwungen ist.

Besonders hart hat es Tunesien getroffen. Zwar ist dem nordafrikanischen Land als einzigem Staat der arabischen Welt trotz vieler Rückschläge der Übergang in die Demokratie gelungen. Der fragile Kompromiss zwischen den großen Kräften des Landes – der säkularen Regierungspartei Nidaa Tounes und der moderat islamistischen Ennahda – verspreche aber keine „substanzielle Reformen“, heißt es in einer Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zudem liegt die Wirtschaft brach. Nach zwei Terroranschlägen auf Urlauber ist der wichtige Tourismussektor eingebrochen.

Was das bedeutet, zeigt sich in Sidi Bouzid. Die Stadt mit ihren flachen Häusern hat den jungen Menschen wenig zu bieten, weder an Jobs noch an Freizeitmöglichkeiten. Straßen und Cafés sind tagsüber voller junger Männer, die die Zeit mit Teetrinken, Kartenspielen und Wasserpfeifen totschlagen. Das Ziel der allermeisten: die Flucht nach Europa, wo sie sich eine bessere Zukunft versprechen.

Trotz der dramatischen Entwicklung in weiten Teilen der Region warnen Experten davor, die heutige Lage nur als Ende eines gescheiterten Aufstands zu sehen. SWP-Chef Volker Perthes sieht die arabische Welt vielmehr mitten in einer Zeitenwende. „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“, heißt ein Essay, den er 2015 veröffentlichte. Demnach steht die Region erst am Anfang einer langen Phase der Unruhe und des Umbruchs. Ausgang ungewiss.

Antreiber des Wandels werden die jungen Generationen sein, die schon 2011 auf die Straßen zogen.