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Bertelsmann-Studie Wählerverlust aus der bürgerlichen Mitte

Eine Bertelsmann-Studie zeigt bei den Wählern eine neue Konfliktlinie zwischen Modernisierungs-Skeptikern und -Befürwortern.

Von Carsten Linnhoff, dpa 06.10.2017, 23:01

Berlin l Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung haben die etablierten Parteien viele Wähler in der bürgerlichen Mitte verloren. Die Autoren der Studie benennen als Grund eine neue Konfliktlinie, die die Wahlberechtigten in Deutschland in zwei Gruppen teilt: Die Modernisierungsskeptiker und -befürworter. Und wie zuletzt bei der Bundestagswahl 1998 gelang es diesmal mit der AfD einer Partei, Wähler im großen Stil zu mobilisieren. Die Autoren haben sich dazu das Wahlverhalten in zehn definierten Gesellschaftsgruppen genauer angeschaut.

Welche Milieus hat die Studie beleuchtet?

Bürgerliche Mitte (13 Prozent Anteil an allen Wahlberechtigten), traditionelles Milieu (14), konservativ-etabliertes Milieu (11), prekäres Milieu (9), hedonistisches Milieu (13), adaptiv-pragmatisches Milieu (10), konservativ-etabliertes Milieu (11), sozialökologisches Milieu (7), liberal-intellektuelles Milieu (7), Milieu der Performer (8), expeditives Milieu (7).

Wie genau ist die Bürgerliche Mitte dabei definiert?

Das Sinus-Institut als Urheber definiert dieses Milieu als „leistungs- und anpassungsbereiten bürgerlichen Mainstream“. Dabei bejaht diese Gruppe die gesellschaftliche Ordnung und wünscht sich, beruflich und sozial etabliert zu sein. Auch besteht der Wunsch nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen. Aber: In diesem Milieu gibt es eine wachsende Überforderung und Abstiegsängste.

Was sagt die Bertelsmann-Stiftung zum unterschiedlichen Wahlverhalten zwischen den alten und neuen Bundesländern?

„Die sozialen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland erklären auch das unterschiedliche Wahlverhalten. Es ist also in erster Linie ein sozialer und kein regionaler Unterschied. Gerade die Milieus der Bürgerlichen Mitte und der sozial Prekären sind in Ostdeutschland stark überrepräsentiert. Und genau diese Milieus haben auch in Westdeutschland am häufigsten die AfD gewählt“, sagt Studienautor Robert Vehrkamp.

Was bedeutet soziale Spaltung bei der Wahlbeteiligung?

Dieser Punkt beschreibt, wie stark die Wahlbeteiligung in einem Wahlbezirk vom sozialen Profil der Wohngegend abhängt. In sozial starken Vierteln werden traditionell mehr Stimmen bei der Wahl abgegeben als in wirtschaftlich schwachen Bezirken. Bundesweit betrachtet ergibt dann die Kluft zwischen starker und schwacher Wahlbeteiligung einen Prozentwert für die soziale Spaltung.

Wie ist diese 2017 ausgefallen?

Der AfD ist es laut Studie gelungen, Nichtwähler und Wähler aus sozial prekären Stimmbezirken in großem Stil zu mobilisieren. Das hat dazu geführt, dass die soziale Spaltung im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 von 29,5 auf 26,7 Prozent gesunken ist. „Eine derartige Verringerung der sozialen Spaltung haben wir zuletzt 1998 beim Wahlsieg der SPD beobachtet“, erläutert Stiftungsexperte Vehrkamp. Der Schröder-Lafontaine-Effekt hatte bei der Abwahl von Helmut Kohl (CDU) die soziale Spaltung um 4,2 Prozentpunkte auf 19,1 Prozent gesenkt.

Gibt es Kritik an der Studie?

Ja. Dem Politikwissenschaftler Niko Switek von der Uni Duisburg-Essen kommt der Blick auf die FDP bei der starken Hervorhebung der AfD zu kurz. „Auch die FDP hat in allen Milieus zugelegt“, sagt der Wissenschaftler der dpa. Auch bei der Interpretation der Daten meldet Switek Kritik an. „Die neue Konfliktlinie kann den Erfolg der AfD zum Teil erklären, aber die Motive der Wähler sind vielschichtiger und dadurch nicht völlig erfasst. Inwieweit beispielsweise Protest oder eine Denkzettel-Wahl eine Rolle spielen, bleibt dabei offen.“

An der Methodik hat der Politikwissenschaftler keine Zweifel. „Die Studie stellt überzeugend längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen heraus, geht aber in der Analyse nicht auf andere Einzelheiten der konkreten Wahl ein wie Themenlage oder Kandidaten, die aber für Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung diesmal äußerst relevant waren.“

Zum Kommentar von Volksstimme-Chefredakteur Alois Kösters.