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Bildung Wer ist schuld am Rechtschreibnotstand?

Die Schuld am schlechten Schreiben von Grundschülern wird besonders dem anfänglichen Schreiben nach Gehör gegeben.

24.04.2019, 09:32

Düsseldorf (dpa) l "Fata", "Hunt" und "Mama, ich hap dich lip" – wenn Grundschüler so drauflos schreiben, dann kocht bei vielen Eltern die Wut hoch. "Lesen durch Schreiben" heißt die Methode, die allgemein zum Sündenbock für das sinkende Rechtschreibniveau geworden ist. Das umstrittene Konzept des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen (1939-2009) aus den 1980er Jahren steht inzwischen in vielen Bundesländern auf dem Index. Jahrelang sollten ABC-Schützen nach dieser Methode anfangs nach Gehör schreiben, ohne von Lehrern oder Eltern korrigiert zu werden.

Kürzlich verordnete auch Nordrhein-Westfalens Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) den Grundschullehrern eine neue Handreichung, die die wilden Anfangsschreibversuche der Schüler wieder einfangen soll. "Die Regeln der deutschen Rechtschreibung können und müssen von der ersten Klasse an gelernt werden", erklärte Gebauer. Mehr als jeder fünfte Viertklässler in Deutschland erfüllt bei Rechtschreibung laut einer Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) die Mindeststandards nicht.

In Hamburg und Schleswig-Holstein ist die umstrittene Methode des Schreibens nach Gehör schon verboten. Auch in Bayern oder Baden-Württemberg sowie in den meisten Ost-Bundesländern kommt "Lesen durch Schreiben" nicht zum Einsatz. Bestätigt fühlen sich die Kritiker durch eine Bonner Studie, wonach Grundschüler Orthografie am besten nach der klassischen Fibelmethode lernen, also erst Buchstabe für Buchstabe und dann Wörter.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Denn nur zwei bis drei Prozent der Grundschulen wenden bundesweit die Methode des Schreibens nach Gehör in Reinform an, so die Schätzungen. "Das ist so ein Schlagwort, aber nicht die Unterrichtsrealität", sagt Anne Deimel vom Verband Bildung und Erziehung (VBE). Das reine "Lesen durch Schreiben" nach der Reichen-Methode werde kaum praktiziert. Deimel ist selbst Grundschullehrerin. Lehrkräfte ließen die Kinder beim Erlernen der Rechtschreibung nicht allein, betont sie. Der richtige Methodenmix sei der Schlüssel zum richtigen Schreiben. "Nicht für jedes Kind ist jeder Ansatz gleich gut", sagt Deimel.

In der dritten Klasse einer Grundschule im Düsseldorfer Norden schreiben die Kinder fast fehlerlos ihre kleinen Geschichten. "Pitza" statt "Pizza" ist einer der ganz wenigen Fehler. Lehrerin Monika L. (58) ist seit fast 30 Jahren im Schuldienst und hat sogar noch das Heft mit Reichens Methode in ihrem Bücherschrank. In einem gibt sie Reichen zumindest ein bisschen Recht: "Wenn ich nicht nach Gehör arbeite, lerne ich gar nichts." Problematisch werde es aber, wenn es kein Korrektiv gebe. Nie wäre L. auf die Idee gekommen, die Schüler nicht zu korrigieren.

Lehrerin L. setzt auf ein viel differenzierteres Lautlernsystem als die einfache Anlauttabelle Reichens, die nur die Anfangsbuchstaben von Wörtern Lauten zuordnete. "Es ist auch entscheidend, wo im Wort der Laut sitzt, ob die Silbe betont ist oder nicht", sagt sie. Der neue Leitfaden für NRW ist für sie die Bestätigung der Methoden, die sie seit Jahren praktiziert. "Für mich war da nichts neu."

Rechtschreibung sei nun mal ein komplexer Vorgang, in dem viele Sinne wie Sprechen, Sehen, Motorik und besonders das Hören eine Rolle spielten. Ihre Schüler sollen deshalb beim Schreiben immer die Silben mitsprechen. "Natürlich regt sich die halbe Elternschaft darüber auf, dass die Kinder nicht mehr gescheit schreiben lernen", sagt L. Die Gründe dafür seien aber ein "großes Paket". Mangelnde Konzentration, schreibmotorische Probleme – all das gehöre dazu.

Hanna Sauerborn, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, sieht das zu späte Korrigieren als eines der Hauptprobleme. "Es hat sich im Fach Deutsch die absurde Haltung eingebürgert, Fehler nicht mehr von Anfang an zu verbessern", moniert sie. In Mathe würden Fehler ja auch korrigiert. Der Grund für sinkende Rechtschreibleistung sei aber nicht allein die die Reichen-Methode, meint Sauerborn. "Sie werden ein so komplexes Bedingungsgefüge nicht auf einen Faktor reduzieren können." Zu heterogen seien die Klassen heutzutage. Letztlich komme es immer auf den Lehrer an.

Auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, räumt ein: "Die abfallenden Rechtschreibleistungen beobachten wir nicht nur in den Ländern, die sehr stark auf die Lesen-durch-Schreiben-Methode gesetzt haben." Auch in den Ost-Bundesländern, wo die Methode nie verbreitet war, sinke das Niveau. "Es ist ein ganzes Bündel von Ursachen."

So spiele das zusammenhängende Lesen nur noch eine geringere Rolle bei Kindern. "Sie lesen halt keine Bücher mehr", sagt Meidinger. Stattdessen würden täglich Hunderte Kurznachrichten gelesen. "In sozialen Netzwerken spielt die Rechtschreibung keine Rolle." Lehrer gäben inzwischen die Rückmeldung, dass Schüler Quellentexte oder literarische Texte nicht mehr verstehen.

Auch Bildungsforscher Hans Brügelmann sieht viele Ursachen des Rechtschreibdramas. "Seit Jahrzehnten wird über die Rechtschreibkatastrophe geklagt", sagt er. "Schon frühere Studien haben immer wieder schlechte Rechtschreibleistungen erbracht." Relativieren will Brügelmann nichts. "Aber die Illusion, wenn wir wieder so unterrichten würden wie früher, dann hätten wir das Problem nicht, die müssen wir uns abschminken."