Corona-Pandemie Aus der Krise lernen

Wie wollen wir den Wiederaufbau gestalten? / Gastbeitrag

Von Thomas Kliche 15.04.2020, 23:01

Aus psychologischer Sicht haben Menschen unterschiedliche Gründe für Besonnenheit, also für Kontakteinschränkung. Manche haben primitive Angst vor Strafe. Andere halten die Einschränkungen kaltherzig für zweckmäßig, weil die Krankheit die Familie bedroht, die Wirtschaft lähmt und mit weiterer Verbreitung gefährlichere Mutationen hervorbringen kann. Für die meisten tritt die gemeinsame Erfahrung in den Vordergrund: Wir alle teilen Bedrohung und Einengung, wir bangen um Wohlstand und Sicherheit, wir sind einander ähnlich und aufeinander angewiesen. Wir spüren die Verflochtenheit der Menschen, die Gesellschaft und Wirtschaft als Gemeingüter schafft. Und ein letzter Gefühlsgrund für verantwortliches Verhalten weist darüber hinaus: Wir sehen uns selbst im Anderen, weil wir alle Menschen sind, verletzlich und wertvoll sind, zur Welt beitragen, verschmolzen zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft. Jede Krise auf der anderen Seite der Erde betrifft uns, sei es Krankheit, Krieg, Rezession oder Umweltzerstörung.

Diese Motivlagen wirken derzeit unauffällig nebeneinander, sie laufen ja auf das gleiche Verhalten hinaus: Disziplin bei Kontakten und pragmatische Suche nach machbarer Alltagsführung. Sie sind aber im Herzen ungleich und werden auseinander treiben. Dann erst entscheidet sich, was unsere Gesellschaft aus der Krise lernt. Dann brauchen wir weitblickende Verantwortung. Die Pflöcke müssen wir bald einschlagen. Kurzarbeit, Kredite und Zuschüsse bieten kurzfristige Überbrückung. Wie wollen wir den Wiederaufbau gestalten?

Grundlinien sind bereits erkennbar:

1. Digitalisierung ist nützlich, aber sie soll der Sache dienen, sich gut anfühlen und mitgestaltet werden.

2. Die Konjunkturprogramme müssen verantwortliches Unternehmenshandeln fördern, vor allem nachhaltiges Wirtschaften als Überlebensziel unserer Gesellschaft.

3. Solidarität bedeutet, die Schwächeren abzusichern. Wir brauchen eine demütigungsfreie, zur Neuausrichtung der Existenz befähigende Grundsicherung. Arbeitslosigkeit wird wieder viele treffen. Die Experimente mit bedingungslosem Grundeinkommen in anderen Ländern verlaufen ziemlich erfolgreich, wir sollten sie auswerten. Der Staat muss Hilfen am Gemeinwohl ausrichten. Eine Finanzierung reicher Unternehmen aus Steuergeldern, nachdem sie jahrelang hohe Dividenden verteilt haben, ist daher nur als dauerhafte Beteiligung auch an späteren Gewinnen zu rechtfertigen. Die Reichen profitieren wie alle von der öffentlichen Ordnung und Disziplin und sollten entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit am Wiederaufbau beteiligt sein, auch mit neuen Instrumenten wie einer Börsentransaktionssteuer. Steuerhinterziehung ist asozial, die internationalen Schlupflöcher müssen rasch verstopft werden.

4. Kleinteilige und örtlich verankerte Strukturen sind widerstandsfähiger, nachhaltiger und näher am Menschen. Das bedeutet eine staatliche Stärkung etwa von Genossenschaften, die die Regionalwirtschaft in die eigene Hand nehmen.

5. Freiwilliges Engagement macht unsere Gesellschaft menschlich und belastungsfest. Wir müssen es als grundlegendes Bildungsziel ermutigen.

6. Menschenleben sind wertvoll, der Gesetzgeber kann sie schützen, lange vor der Intensivstation. Abertausende sterben jährlich an den Folgen von Nikotin, Alkohol, Fehlernährung und Bewegungsmangel. Ein gesundheitsgerechter Umbau unserer Lebenswelten, etwa Kita, Schule, Arbeitsplatz, Gemeinde, bringt riesige soziale Renditen.

Nur wenige Parteien haben sich in den letzten Jahren um weitsichtige Programme bemüht; unklar, ob sie dieser Aufgabe gewachsen sind. Wir sollten über neue Wege politischer Teilnahme nachdenken: Bürgerbudgets; Entscheidungsbeteiligung der Freiwilligen und ihrer Vertretungen, der Freiwilligenagenturen und Wohlfahrtsverbände; ein Netz von Querdenkern, die in die Parteien eintreten, um sie auf den richtigen Weg zu lotsen; neue Gruppierungen.

Das schicksalhafte Experiment ist der Wiederaufbau, nicht die Kontaktbeschränkung.