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Ex-Minister Steinbrück gegen Talkshow-Demokratie

Peer Steinbrück gibt sein Bundestagsmandat auf. Er beweist in der Altmark, dass dies kein Abschied von der Politik sein wird.

Von Steffen Honig 12.09.2016, 01:01

Tangermünde. l Der Name Steinbrück hat noch immer Zugkraft. Weil ihn am Freitagabend in Tangermünde mehr Leute hören wollen, als in den geplanten Kirchenraum passen, wird in einen Saal des Schlosshotels umgezogen. Der SPD-Politiker, eingeladen von der hiesigen sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Marina Kermer, soll vor den 150 Zuhörern über die Zukunft der Weltwirtschaft sprechen.

Ein mindestens abendfüllendes Thema. Steinbrück verarbeitet es – wie gewohnt rhetorisch gekonnt – in gerade mal einer knappe Stunde. Da er alles in den Kontext einer verteufelt komplizierten internationalen Krisenlage packen muss, bleibt es mitnichten bei einem reinen Wirtschaftsvortrag.

Ausgangspunkt ist für ihn eine Welt im Umbruch, die Zäsur 2014/15. Da sei die „postsowjetische Friedensordnung“ durch die Krim-Annexion und die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine infrage gestellt worden.

Begünstigt auch durch Fehler des Westens, wie ein Assozierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine an Moskau vorbei abschließen zu wollen. Nun habe man es mit einem hybriden Krieg zu tun, der mit Waffen, Propaganda, Energieboykotten und Desta- blisierung geführt werde.

Steinbrück nennt die Griechenlandkrise, die sich zu einer Eurokrise ausgewachsen habe. Er selbst, erklärt Steinbrück, hätte gegen das 3. Rettungspaket für Griechenland gestimmt. „Es macht keinen Sinn, griechische Schulden zu refinanzieren“, erklärt er und meint, ein Schuldenschnitt wäre wahrscheinlich besser gewesen.

Schließlich der Nahe Osten: „Wir haben uns vor zwei, drei Jahren nicht vorstellen können, dass Staaten buchstäblich zusammenfallen.“ Auch hier verweist er auf Fehler der westlichen Politik, die Zerfall und Kriege gefördert hätten.

Prägnantestes Beispiel sei der Irak-Krieg mit dem Aufkommen des Islamischen Staates. Konsequenz: eine Flüchtlingsbewegung unvorstellbaren Ausmaßes. „Kein Politiker kann sagen, wie es weitergeht.“

„Die Herausforderung ist größer als die Wiedervereinigung“, so Steinbrück, weil sie Menschen aus einem völlig anderen Kulturraum betreffe.

Bei der Wirtschaft kommt Steinbrück schnell zu TTIP und CETA. Den Widerstand dagegen nennt er „Abwehr gegen die Risiken der Globalisierung.“ Doch Deutschland sei keine „Insel der Seligen“, das Rollo runterzulassen könne nicht funktionieren. Eines seiner Lieblingsthemen, den Kampf gegen Steuerbetrug, lässt er mit einer „Kavallerie“-Anspielung Revue passieren. Diese drohte Steinbrück in die Schweiz einmarschieren zu lassen. Das Publikum erinnert sich und applaudiert im Nachhinein.

Leidenschaftlich plädiert Steinbrück dafür, Resignation zu begegnen und nicht alles auf die etablierte Politik zu schieben. Er appelliert an die zivilgesellschaftliche Verantwortung. Dass sich für 10  000 Wahlmandate in Nordrhein-Westfalen nicht mehr genügend Bewerber fänden, sei erschreckend. „Wie soll es Mehrheitsentscheidungen geben, wenn nicht über die Parlamente? In Talkshows vielleicht?“

Die Vorlage zur Schlusspointe kommt aus dem Zuschauerraum. Ob er nicht froh sei, dass der Kelch der Kanzlerschaft an ihm vorbei gegangen sei?, so die Frage. Steinbrück lächelt: „Meine Familie sagt: Gut, dass du 2013 verloren hast.“