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Flüchtlings-Krise Neue Massenflucht aus Afghanistan

Zehntausende in Afghanistan fliehen vor den Taliban. Ihr Ziel ist Europa und vor allem Deutschland.

27.09.2015, 23:01

Kabul (dpa) l Schon vor der Morgendämmerung bildet sich am Passamt in der afghanischen Hauptstadt Kabul eine lange Schlange. Im Frühjahr hätten in der Behörde täglich rund 1000 Afghanen einen Reisepass beantragt, sagt der Passbeamte Abed Halim. Inzwischen seien es jeden Tag etwa 5000 Antragsteller. Die dramatische Steigerung ist ein Indiz dafür, wie viele Menschen vor der Gewalt und der wirtschaftlichen Misere in Afghanistan fliehen wollen. Nach Syrern bilden Afghanen inzwischen die größte Gruppe von Flüchtlingen, die in die EU kommen.

Im zweiten Quartal dieses Jahres stellten nach Angaben der EU-Statistikbehörde Eurostat 27 000 Afghanen in einem EU-Land einen Erstantrag auf Asyl – die Gruppe der Syrer umfasste 44 000 Menschen. In Kabul machen Gerüchte die Runde, die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel erteile geflüchteten Afghanen nach kurzer Zeit die deutsche Staatsbürgerschaft.

„Die meisten Menschen wollen nach Deutschland, weil Angela Merkel angekündigt hat, dass Deutschland die Flüchtlinge aufnimmt“, sagt der 52-jährige Arif. Er hat ein Reisebüro in der Nähe des Passamtes, das Dienste rund um Pass- und Visaanträge anbietet. „Wir wissen, dass es Probleme in Europa gibt und dass viele Menschen Flüchtlinge hassen. Aber es ist immer noch Europa, wo man viele Möglichkeiten hat. Selbst wenn Du nur für fünf Jahre dorthin gehst, ist es besser, als ohne Arbeit und Sicherheit in Afghanistan zu leben.“

14 Jahre nach dem Sturz des radikalislamischen Taliban-Regimes ist die erneute Massenflucht der Afghanen auch ein Armutszeugnis für die internationale Gemeinschaft, der es nicht gelungen ist, das Land zu stabilisieren. „Viele Menschen, die damals zurückkamen, haben Afghanistan wieder verlassen“, sagt der Landesdirektor der Internationalen Organisation für Migration, Richard Danziger.

Jeder in Kabul kennt irgendwen, der sich kürzlich in Richtung Europa aufgemacht hat. 23 Mitarbeiter von Fernsehsendern haben sich in diesem Monat gemeinsam ins Ausland abgesetzt. Die deutsche Botschaft in Kabul versucht per Twitter, Afghanen von der Flucht abzubringen. „Letztes Jahr wurden weniger als ein Drittel aller Bewerbungen um Asyl in Deutschland angenommen“, warnt die Vertretung.

Ex-Präsident Hamid Karsai appellierte vor wenigen Tagen an seine Landsleute: „Gebt nicht 10 000 Dollar aus, um nach Europa zu gelangen, ohne zu wissen, wie eure Zukunft aussieht, ob ihr auf dem Weg ertrinkt, sterbt oder zurückgewiesen werdet.“ Bei vielen Afghanen verfangen solche Appelle nicht mehr, sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in ihrer Heimat aufgegeben.

„Menschen verkaufen ihren Besitz und ihre Häuser, um zu fliehen“, sagt Mohammad Amin Khosti, Vorstandsmitglied der Industrie- und Handelskammer in Kabul. Vor allem junge, oftmals auch gut ausgebildete Afghanen verließen ihre Heimat.

Der 48-jährige Ladenbesitzer Ghafor aus der ostpakistanischen Stadt Dschalalabad hat sein Haus verpfändet, um seinem 16-jährigen Sohn Nasir die Flucht nach Deutschland zu ermöglichen. „Ich wollte nicht, dass er ein Krimineller wird oder sich den Taliban oder Daesch (arabischer Name für die Terrormiliz Islamischer Staat) anschließt“, sagt Ghafor. Drei Monate sei Nasir unterwegs gewesen. „Jetzt, wo ich weiß, dass mein Sohn sicher in Deutschland ist, bin ich sehr glücklich.“

Der Schleuser, den Ghafors Familie nutzte, sagt am Telefon, die Preise seien unter anderem wegen der geschlossenen Route durch Ungarn gestiegen. „Es ist schwieriger für uns geworden.“ Unterwegs müssten zahlreiche Polizisten geschmiert werden. Der Landweg nach Deutschland über Pakistan und den Iran, der ohne Reisepass machbar sei, koste 8000 Dollar. Die sicherere Variante sei ein Flug nach Istanbul, um von dort weiter nach Griechenland zu reisen. Der Preis für dieses Paket liege bei 13 000 Dollar – Türkei-Visum für 4500 Dollar inklusive.

Neben der Warteschlange am Passamt wirbt ein anderer Schleuser per Aushang damit, Visa für die Türkei, den Iran und für Deutschland besorgen zu können. „Wir haben einige Leute in den Botschaften, die uns helfen“, sagt er am Telefon. Die deutsche Botschaft in Kabul hat nach eigenen Angaben keinerlei Hinweise auf Visa-Schiebereien.

Der Schleuser sagt, für die Bundesrepublik Deutschland könne er innerhalb von 30 bis 35 Tagen eine Einreiseerlaubnis beschaffen, die nicht gefälscht sei. „Nicht nur (beim Zwischenstopp) in Dubai, auch in Deutschland wird man damit nicht gestoppt.“ Der Preis dafür liege bei 25 000 Dollar (22 400 Euro), inklusive einer Art Geld-Zurück-Garantie: Die Auszahlung des Geldbetrages, der in Kabul bei einem Mittelsmann hinterlegt wird, werde allerdings erst nach der Einreise fällig.