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Flüchtlingskrise Girke: "Türkei-Deal ist ohne Fundament"

Die Landeschefin des Paritätischen hat auf Lesbos bei Flüchtlingen geholfen. Sie berichtet von ihren Eindrücken.

Von Steffen Honig 01.07.2016, 01:01

Frau Girke, was hat Sie zu Ihrem Freiwilligen-Einsatz auf Lesbos bewogen?

Gabriele Girke: Anlass war, dass mein Sohn dort schon für mehrere Monate in der Seenotrettung unter anderen für die private Hilfsorganisation „Sea watch“ gearbeitet hat. Ich wollte mir dies auch mit eigenen Augen ansehen. Ich beschäftige mich hier damit, Hilfen für Flüchtlinge zu organisieren Auf Lesbos konnte ich selbst mit Hand anlegen. Durch Informationen der Freiwilligen, die jetzt noch dort sind bleibe ich auf dem Laufenden.

Was passiert auf der Insel?

Lesbos ist Flüchtlinge gewohnt. Vor 100 Jahren während der kleinasiatischen Katastrophe wurden 100 000 Flüchtlinge aufgenommen, und es ist in den letzten Jahren immer ein Transitweg gewesen. Der Tourismus ist dort nicht so entwickelt. Die Bevölkerung ist sehr arm, nicht zuletzt durch die griechische Krise. Die Menschen sind sehr hilfsbereit und teilen, was sie haben. Nachts stiegen sie auf unsere Nachrichten hin in ihre Pickups und transportieren die Geretteten. Ich habe keine fremdenfeindliche Aktion erlebt, das fand ich sehr beeindruckend. Auch das die einheimische Bevölkerung in die Hilfsprojekte der Freiwilligen mit einbezogen wird.

Wie konnten Sie den Flüchtlingen helfen?

Die freiwilligen Retter waren an der unwegsamsten Stelle, der Steilküste im Norden. Ihre Hauptaufgabe war die Seenotrettung. Die Flüchtlinge werden auf der türkischen Seite in ein Boot gesetzt und wissen nicht, wo sie landen. Das Benzin reicht nie bis zur anderen Seite. Wenn sie Glück haben, werden sie durch die freiwilligen Helfer gesichtet. Diese müssen bei der griechischen Küstenwache nachfragen, ob sie die Flüchtlinge retten dürfen. Wenn sie Glück haben, erhalten sie die Erlaubnis.

Und wenn nicht?

Dann müssen sie entscheiden, ob sie es trotzdem tun. Wesentlich schärfer ist die Grenzschutzagentur Frontex, die ebenfalls befragt werden muss. Sie hat oft keine Zustimmung zur Rettung gegeben oder gesagt, man solle warten bis jemand kommt. Bis dahin wäre das Boot aber untergegangen. Mich hat in der Vorwoche sehr geärgert, dass der Frontex-Chef sagte, Flüchtlinge kämen immer noch, weil private Helfer diese retten. Das ist mehr als zynisch!

Was passiert mit den Flüchtlingen an Land?

Viele andere Freiwillige kümmern sich um Erstversorgung, dann kommen sie in die Aufnahmelager Moria und Kapa Tepe. In Moria gab es im Frühjahr einen Aufstand, als es nach dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei abgeschottet wurde – mit 3500 Leuten völlig überfüllt. Es gab zu wenig Schlafplätze, viele Kranke ohne medizinische Versorgung und gibt bis heute nicht genug Essen. Als ich auf Lesbos war, sind viele Leute noch aufs Festland gekommen. Das war dann vorbei.

Weil der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal in Kraft trat.

Ja, nach dem Stichtag 20. März sollten alle in die Türkei zurückgeführt werden. Das passiert aber bis heute nicht, weil es nicht mal genügend Personal gibt, um die Asylanträge zu bearbeiten. Der Türkei-Deal ist ein Haus ohne Fundament. Die Hilfen, die durch Deutschland und Europa versprochen wurden, sind nicht da. Weder Personal noch sonstige Ausstattungen. Die rund 3500 bis 4000 Flüchtlinge sitzen fest.

Sie sind also allein gelassen, wie Griechenland auch?

Und das ist perfide, weil die Griechen durch Auflagen der EU öffentliches Personal abbauen mussten und nicht wieder einstellen dürfen. Die meisten Flüchtlinge sind bis jetzt nicht einmal registriert, und wenn, dann dauern die Entscheidungen über die Zukunft ewig. Und es kommen immer noch Flüchtlinge an – in der Vorwoche täglich zwischen 30 und 110 – denn sie fliehen vor Hunger, Verfolgung und Tod.