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Flüchtlingskrise Kippt die Willkommensstimmung?

Kanzlerin Merkel sagt zur Flüchtlingkrise: "Wir schaffen das." Bundespräsident Gauck mahnt, auch auf Ängste zu hören.

28.09.2015, 23:01

Berlin (dpa) l Verschiebt sich etwas in der Republik? In den vergangenen Wochen sprachen Spitzenpolitiker viel über die deutsche Verantwortung, all jenen zu helfen, die vor Krieg und Elend in die Bundesrepublik fliehen. Die Herausforderungen seien zu meistern – Hunderttausende Menschen unterzubringen, sie mit Essen, Wohnungen, Schul- und Kitaplätzen und Jobs zu versorgen. „Wir schaffen das“, sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) immer wieder.

Doch in der Union und Teilen der Bevölkerung kommt das allmählich weniger gut an: Der Unmut bei CDU und CSU nimmt zu, in Umfragen hat Merkels Ansehen Kratzer bekommen. Auch anderswo brodelt es. Und Bundespräsident Joachim Gauck spricht Ängste vor Überforderung offen an. Was tut sich da?

Etwa 800 000 Asylbewerber erwarten die Behörden in diesem Jahr, vielleicht auch mehr. Etwa 40 Prozent von ihnen werden wohl in Deutschland bleiben. Das Asylsystem war darauf nicht ansatzweise vorbereitet. Unterkünfte sind restlos überfüllt, die Behörden kommen bei der Bearbeitung der Asylanträge nicht hinterher. Auch bei der Integration derer, die bleiben, hakt es. Gauck sagt, ein Wettbewerb um billige Wohnungen, um Kindergarten- und Schulplätze sei absehbar.

In einer Rede zur Flüchtlingspolitik am Wochenende stimmte der Bundespräsident das Land auf eine große Kraftanstrengung ein. Die sei zu bewältigen. Aber niemand dürfe die Augen verschließen vor Ängsten, Konflikten und Verteilungskämpfen. Deutschlands Möglichkeiten seien endlich.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) betonte schon vor ein paar Wochen angesichts der neuen Asylprognose, Deutschland sei mit der Lage in diesem Jahr zwar nicht überfordert. Aber auf Dauer seien 800 000 Flüchtlinge einfach zu viel. Damit sprach er vielen Kollegen von CDU und CSU aus der Seele. In der – sonst eher disziplinierten – Union hat sich in den vergangenen Wochen einiger Ärger aufgebaut über den Wir-schaffen-das-Kurs der Kanzlerin. Erst murrten Unions-Leute hinter den Kulissen, inzwischen tun sie das auch öffentlich.

Abgeordnete von CDU und CSU warnen vor nicht zu bewältigenden Lasten und erwarten, dass ihre Regierungs- und Parteichefin in der Flüchtlingspolitik Grenzen aufzeigt. „Es kann nicht nur Wohlfühlsprech geben“, sagt der CDU-Mann Klaus-Peter Willsch. Es reiche nicht aus, immer wieder zu erklären, „dass wir das schon irgendwie schaffen“. Neben dem Geschimpfe aus den hinteren Reihen geht auch CSU-Chef Horst Seehofer offen auf Konfrontation zu Merkel.

Bislang zeigt sie sich davon nach außen hin wenig beeindruckt. Über ihren Sprecher Steffen Seibert lässt die Kanzlerin am Montag zu der Unions-internen Kritik nur allgemein ausrichten, wer schutzbedürftig sei, bekomme in Deutschland auch Schutz. Wer als Flüchtling ankomme, werde menschenwürdig behandelt. Und wer keinen Anspruch auf ein Bleiberecht habe, der müsse wieder gehen. Punkt.

Die Flüchtlingsdebatte hat Merkel Beliebtheitspunkte gekostet. In mehreren Umfragen hat die Kanzlerin an Zustimmung verloren. Unions-Politiker fürchten, dass sie den Rückhalt ihrer Wählerschaft verlieren, während Rechtspopulisten Aufwind bekommen. Die rechtskonservative AfD legte zuletzt in einer Umfrage auf sechs Prozent zu. Auch anderswo in Europa kommt das Flüchtlingsthema rechtspopulistischen Kräften zugute.

Aber nicht nur die Union muss sich um die Stimmung ihrer Basis sorgen und darum, dass potenzielle Wähler an den rechten Rand verloren gehen könnten. Auch die Linke bekommt zu spüren, wie sich in Teilen ihrer Anhängerschaft Unmut breitmacht – wie sich Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger vernachlässigt fühlen, die Hilfsbemühungen und Milliardenausgaben für Flüchtlinge argwöhnisch beäugen und fragen: Und was ist mit mir?

Bei anderen zeigt sich offener Hass und Gewalt. Die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte ist in den vergangenen Monaten sprunghaft gestiegen. Im ersten Halbjahr waren es mit etwa 200 Straftaten schon so viele wie im gesamten Vorjahr. Zuletzt ging es weiter kräftig nach oben: Ende August waren es mehr als 330 Straftaten und drei Wochen später schon mehr als 430.

Vieles sind Schmierereien oder Sachbeschädigungen. Aber auch Gewalttaten nehmen zu: Körperverletzungen und Brandstiftungen. Und das, was die Polizei über die Tatverdächtigen weiß – wo es sie denn gibt –, lässt aufhorchen. Etwa 70 Prozent von ihnen sind vorher nicht durch rechtsmotivierte Straftaten in Erscheinung getreten. Es sind also „neue Täter“. Den Sicherheitsbehörden bereitet das Sorgen.

Dazu kommen Pöbeleien gegen Flüchtlinge im Alltag und rechte Hetze im Netz. All das ist das „Dunkeldeutschland“, von dem Gauck vor wenigen Wochen sprach. Merkel muss nicht nur mit dem Flüchtlingsproblem fertig werden, sondern auch damit.