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Gedenken Der Idealtypus eines Staatsoberhauptes

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker wäre heute 100 Jahre alt geworden

Von Ruppert Mayr 14.04.2020, 23:01

Berlin (dpa) l Richard von Weizsäcker gilt vielen immer noch als bedeutendster Bundespräsident. Unvergessen seine „Befreiungs“-Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985.

"Die Rede war ein starkes Signal mit nachhaltiger Wirkung nach innen wie nach außen. Seine Aufforderung und erklärte Bereitschaft, der historischen Wahrheit ins Auge zu schauen, war eine Botschaft sowohl an die Deutschen wie an unsere Nachbarn, frühere Gegner und heutige Partner in der Welt.“ Mit diesen Worten würdigt Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert die wohl wichtigste Rede Richard von Weizsäckers, die Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa – das sich nun in wenigen Tagen zum 75. Mal jährt. Von Weizsäcker wäre am heutigen Mittwoch 100 Jahre alt geworden.

Die Rede des damaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker 1985 im Bundestag war auch eine Klarstellung: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Flucht und Vertreibung dürften nicht losgelöst gesehen werden von der Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Viele Konservative klatschen damals nicht, für sie ist der 8. Mai weiterhin vor allem ein Tag der Niederlage, ein Tag des verlorenen Krieges.

Der Gedanke, dass der 8. Mai Befreiung war, ist schon damals nicht ganz neu. Dass er jedoch von einem politisch aus der CDU kommenden Bundespräsidenten zu einer Zeit vorgetragen wird, da sein eigenes Lager, dem auch viele Vertriebene angehörten, zum Teil noch weit von derlei Erkenntnis entfernt ist, gibt der Rede eine neue Dimension, setzt, wie es der Vorsitzende der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung Lammert heute sagt, Maßstäbe, die danach nicht mehr so leicht zu umgehen sind. Im Osten Deutschlands war schon gleich nach dem Krieg keine Frage, dass die Russen als Befreier kamen.

Richard von Weizsäcker galt vielen Deutschen als Idealtypus eines Staatsoberhaupts. Als Präsident von 1984 bis 1994 verkörperte er nach Weltkrieg und Holocaust das geläuterte, das weltoffene Deutschland.

„Wie kaum ein anderer hat Richard von Weizsäcker das Amt des Bundespräsidenten verkörpert und geprägt. Er war damit ein Glücksfall für unser Land und die deutsche Demokratie“, sagte jetzt die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer.

Beim Tod Richard von Weizsäckers im Alter von 94 Jahren sagte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck: „In großer Dankbarkeit verneige ich mich vor einem großen Deutschen.“ Und Kanzlerin Angela Merkel erinnerte sich damals: „Ich werde nie seine Ansprache am 3. Oktober 1990 vergessen und meinen inneren Jubel, als er sagte: ,So erleben wir den heutigen Tag als Beschenkte. Die Geschichte hat es dieses Mal gut mit uns Deutschen gemeint.‘“

Richard Freiherr von Weizsäcker wurde am 15. April 1920 in Stuttgart geboren und wächst im „preußischen“ Berlin heran. Er stammt aus dem schwäbischen Bildungsbürgertum. Großonkel, Onkel und Bruder Carl Friedrich sind renommierte Wissenschaftler. Anders als es die Familientradition vorgibt, geht Richard in der jungen Bundesrepublik zunächst in die Wirtschaft. Doch 1969 folgt er dem Ruf des jungen Helmut Kohl in die Politik.

Dieser will die CDU weltoffener, moderner machen. Der promovierte Jurist von Weizsäcker passt da bestens ins Bild. Er ist ein Mann aus der Wirtschaft, Protestant und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages – und ein brillanter Redner. Kohl sorgt dafür, dass von Weizsäcker schnell Karriere macht. Bei der Bundestagswahl 1969 bekommt er einen sicheren Listenplatz, 1979 wird er Bundestagsvizepräsident. 1981 erringt er im zweiten Anlauf das Amt des Regierenden Bürgermeisters in der „Frontstadt“ West-Berlin.

Entgegen seiner Zusicherung, Berlin als „Lebensaufgabe“ zu sehen, drängt er drei Jahre später – gegen den entschiedenen Widerstand Kohls – ins Bundespräsidentenamt. Letztlich kommt es zum Zerwürfnis zwischen dem Parteipatriarchen Kohl und dem „eigensinnigen“ Intellektuellen. Kohl wirft Weizsäcker mit den Jahren vor, er habe vergessen, dass er auf der Parteischiene Karriere gemacht habe. Von Weizsäcker blieb stets auf Distanz zum Parteiensystem.

Mit der Rede zum 8. Mai demonstrierte von Weizsäcker seine politische Eigenständigkeit. Sie ist aber auch Ergebnis der Auseinandersetzung mit seinen eigenen Kriegserlebnissen als Offizier. Und sein Vater Ernst war unter den Nazis Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Die Amerikaner sehen später in seinem Vater einen NS-Schreibtischtäter. In der Auseinandersetzung mit dieser Zeit zeigt Richard von Weizsäcker aber – anders als der überwiegende Teil der Deutschen – schon wenige Jahre nach dem Krieg ein hohes Maß an Selbstkritik. Er war beim Einmarsch in Polen dabei, gleich am zweiten Kriegstag fiel sein Bruder Heinrich. Das war prägend. Die Aussöhnung mit Polen macht er als Politiker zu seinem Anliegen.