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Grundgesetz „Radikalinskis“ das Wasser abgraben

Dem Zusammenhalt der Gesellschaft widmete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Feierrunde am 70. Jahrestag des Grundgesetzes.

Von Steffen Honig 24.05.2019, 01:01

Berlin l Es gibt kaum etwas Typischeres in Deutschland als Kaffee und Kuchen am Nachmittag. Ein Umstand, den sich Bundespräsident Steinmeier seit geraumer Zeit zunutze macht, indem er bei Reisen durch Deutschland immer wieder Kaffeetafeln für den offenen Meinungsaustausch organisiert. So ungewöhnlich wie der Anlass war diesmal das Ambiente: zum runden Geburtstag des Grundgesetzes wurde auf dem gepflegten Rasen im Park von Schloss Bellevue getafelt.

An 22 Tafeln, mit Moderaten vom Journalisten Giovanni di Lorenzo, Bundeskanzlerin Angela Merkel bis zum Sänger Roland Kaiser wurde zwei Stunden lang geredet, gegessen und getrunken. Steinmeier startete das „Debatten-Fest“ mit einer Warnung: „Einen entspannten Nachmittag kann ich ihnen nicht versprechen.“ Deutschland sei auf einer grundsätzlichen Suche: „Was hält uns in Deutschland zusammen?“

Astrid Jung-Beckermann aus dem Bördedorf Ummendorf hält einheitlicheres Bildungssystem in Deutschland für dringend nötig. Sie wirkt seit 30 Jahren im Gemeinderat mit, davon lange Zeit im Sozialaussschuss. Sie glaubt nicht, dass dies das Niveau der schulischen Ausbildung senken würde. Einen Standpunkt, den sie in der Debatte am Kaffeetisch vertritt.

Dass bei den versammelten politisch Mächtigen ankommt, was die Gäste wie Astrid Jung-Beckermann engagiert vorbringen, macht Verfassungsgerichtspräsident Andreas Vosskuhle deutlich: „Das Thema Bildung ist an den Tischen immer wiedergekehrt.“ Vom Föderalismus im deutschen Schulystem hielten viele nichts, und die Bildung in den ersten Lebensjahren müsse besser werden, resümierte er die Gespräche.

Häufig angesprochen worden seien zudem das Ost-West-Gefälle innerhalb Deutschlands und die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann. Der oberste Verfassunsgrichter zeigte sich ingesamt besorgt über das „Rumoren an der Basis“ im Lande. Politik und Behörden müssen lernen, besser zuzuhören, fiel ihm dazu ein.

Von einer „wunderbaren Tafel“ spricht Kanzlerin Angela Merkel. Doch die „schlechte Stimmung“ im Lande , von der immer wieder berichtet worden sei, mache auch ihr Sorgen. Die Parteien müssten nach neuen Möglichkeiten suchen, um die Menschen für sich zu gewinnen, sagte die Regierungschefin.

Steinmeier konstatierte eine „riesengroße Sehnsucht danach, dass unsere Gesellschaft mit sich selbst im Gespräch bleibt“. Sein Appell: „Überlassen wir unsere Debatten doch nicht den Lautsprechern und politischen Radikalinskis!“

Insbesondere der Rechtsruck in der Gesellschaft beunruhigt Angelika Uiffinger. Die früherere Lehrerin aus dem Harzkreis ist Integrationslotsin in Halberstadt. Sie unterstützt Familien aus Syrien, dem Iran und Afghanistan dabei, in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Sie kennt die damit verbundenen Schwierigkeiten genau.

„Die Kinder müssen in der Schule klarkommen, die Eltern mit der Arbeit.“ Die Verwaltungswege stellten zusätzliche Hürden dar. Sie störe aber, dass gerade diejenigen, die sich nicht an die hiesigen Regeln hielten, zu sehr das Bild von Flüchtlingen in Deutschland prägten.

Der Magdeburger Harald Gensch, Betriebsrat bei einer Bank, hatte eine Portion Pessimismus im Schloss Bellevue mitgebracht. Nach dem Tafeln im Garten war er jedoch von den Debatten vor der Schlosskulisse angetan. Er ist in keiner Partei, aber in Sportvereinen. „Mich hat vor allen die Offenheit überrascht, die die Politiker an den Tag gelegt haben. Auch wenn keiner gleich mit Lösungen dienen konnte“, meinte Gensch.

„Zusammenhalt lässt sich nicht verordnen. Sondern: Zusammen hält, wer zusammen tut“, zeigt sich Steinmeier überzeugt: „Ja, das Grundgesetz ist eine Zumutung! Eine Zu-Mutung im besten Sinne: Macht die Zukunft zu euer Sache!“