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Hungersnot Nach Boko Haram kommt der Hunger

Seit mehr als sieben Jahren versetzt eine Terrormiliz den Norden Nigerias in Angst und Schrecken. Nun droht eine Hungerkatastrophe.

Von Sam Olukoya und Kristin Palitza 14.12.2016, 23:01

Maiduguri (dpa) l Geduldig warten die Mütter auf Holzbänken in der behelfsmäßigen Klinik des Flüchtlingslagers Muna Garage in Maiduguri. Sie haben Babys und Kleinkinder auf dem Schoß. Die Bäuche der Kinder sind aufgebläht, ihre Haut ist faltig, das Haar brüchig. Viele sind zu schwach, um zu weinen.

Die Mütter und Kinder sind vor der Terrormiliz Boko Haram nach Maiduguri geflüchtet, in die Hauptstadt des Bundesstaats Borno im Nordosten Nigerias. Eine Krankenschwester legt unter den besorgten Blicken von Mariam Abdullahi ein Maßband um das dünne Ärmchen ihrer zweijährigen Tochter Hajara. Die Skala des Maßbandes zeigt die Farbe Rot: Der Armumfang ist zu gering für ein Kind ihres Alters. Hajara ist stark unterernährt – wie viele vertriebene Kinder.

Nach Angaben der UN leiden 400.000 Kinder in der Region an akuter Unterernährung. Sollten sie nicht rasch Hilfe bekommen, könnte jedes fünfte Kind sterben. Nigeria drohe „die schlimmste humanitäre Krise auf dem afrikanischen Kontinent“, warnt UN-Hilfskoordinator Peter Lundberg. Etwa 4,4 Millionen Menschen seien von einem Lebensmittelnotstand betroffen, 65.000 stünden knapp vor einer Hungersnot, heißt es.

In Maiduguri leben eine Million Flüchtlinge, die Einwohnerzahl hat sich dadurch fast verdoppelt. Die Flüchtlinge sind in einem der neun Zeltlager oder bei Anwohnern untergekommen. Schon vor ihrer Ankunft war das Leben in der heißen und staubigen Stadt nicht einfach. Nun platzt Maiduguri aus allen Nähten, die öffentliche Verwaltung steht vor dem Zusammenbruch. Vor allem Schulen sowie die Gesundheits- und Wasserversorgung seien betroffen, sagt Unicef-Mitarbeiter Abdulkadir Musse.

Boko Haram hat in den vergangenen Jahren während des Feldzugs zur Errichtung eines sogenannten Gottesstaats unzählige Dörfer zerstört. Die Islamisten stehlen Vieh und Lebensmittel oder brennen Felder und Ernten nieder. Bauern können nichts anbauen. „Wir können nur arbeiten, wenn es sicher ist“, sagt Mustapha Abbas. Ihm gehören Felder außerhalb von Maiduguri. „Wir hören ihre Schüsse selbst dann, wenn sie mit ihren Motorrädern und Fahrzeugen kommen.“

Vor einigen Tagen seien die Terroristen in der Nähe seines Feldes gewesen und hätten einige Bauern getötet. Das Militär hat die Extremisten zwar zurückgedrängt, aber besiegt ist die Miliz, die der Terrororganisation Islamischer Staat die Treue geschworen hat, nicht.

Wegen der andauernden Terrorgefahr gelangen nicht genug Hilfsmittel in die Region. In den Läden und Märkten in Maiduguri gibt es nur wenig zu kaufen, die Preise sind drastisch gestiegen. Sogar die Versorgung mit sauberem Wasser ist ein Problem.

Im Muna-Garage-Lager gibt es nur 15 Wasserpumpen für die 16.000 Bewohner. Stundenlang stehen die Flüchtlinge an, um ihre Behälter aufzufüllen, immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen. In ihrer Verzweiflung benutzen viele Lagerbewohner das schmutzige Wasser aus dem Fluss Alo. Andere trinken sogar aus Pfützen.

Illegal abgeladener Abfall verstopft die Straßen und Känale. Der Mangel an Hygiene sei ein Brutkasten für Krankheiten, warnt Helle Poulsen-Dobbyns von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Viele Gesundheitseinrichtungen in der Region seien wegen der Sicherheitslage geschlossen, berichtet das Internationale Rote Kreuz. Daher mangele es an Ärzten und Krankenschwestern, Medizin und Ausrüstung. Die drei öffentlichen Krankenhäuser in Maiduguri sind überfüllt. Kranke liegen auf dem Boden und warten viele Stunden, bis sie behandelt werden.

Für die Vertriebenen geht es ums nackte Überleben. Die 30-jährige Mariam Abdullahi kümmert sich um ihre unterernährte Tochter Hajara. Sie hat nun noch weniger Zeit, Essen für ihre anderen fünf Kinder zu organisieren. Tausende hungrige Menschen stürmen zum Verteilzentrum, wenn Hilfslieferungen ankommen. Stundenlang stehen sie in der prallen Sonne und kämpfen um ihren Platz in der Schlange.

Eine Ration – zwei Säcke Reis und Bohnen sowie 7,5 Liter Öl zum Kochen. Davon soll eine Familie von bis zu sieben Menschen zwei bis vier Wochen leben. Doch die Abstände zwischen den Lieferungen sind oft länger, sagt Abdullahi. „Wir bekommen alle zwei bis drei Monate eine Ration. Oft essen wir tagelang nichts.“